Thema: Kultur

„Was wir gerade erleben, ist eine historische Korrektur von Countrymusik“

Wer an Country denkt, denkt oft an weiße Konservative, die sehnsüchtig vom Landleben singen. Jett Holden ist Schwarz, schwul und will Countrystar werden. Unsere Autorin hat sich in einer Branche umgehört, die sich wandelt – zumindest ein bisschen

Text: Marina Klimchuk
10. März 2025
Portrait von Jett Holden

Countrymusik entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zusammen mit der aus Irland nach Amerika eingewanderten Geige und der mexikanischen Gitarre gehörte das von Schwarzen Sklav:innen nach Amerika gebrachte Banjo zu den frühen Instrumenten des Genres. In den Anfangsjahren des Country musizierten Schwarze und Weiße im Süden der USA zusammen, lernten voneinander, ihre Stile vermischten sich: Sie sangen von Alltag, Liebe, Glauben, Gott und Armut. 

In diesem Moment hat Jett Holden, was ihm jahrelang verwehrt wurde. Als er von der Bühne des Lincoln-Theaters in Raleigh, der Hauptstadt von North Carolina, geht und das Publikum für ihn klatscht, glüht sein ganzer Körper vor Aufregung. Eine ältere Frau aus dem Publikum fängt ihn ab und schüttelt ihm die Hand. „Incredible“, unglaublich war das, raunt sie ihm zu. 

Holden ist Schwarz, schwul und Countrymusiker. Zum ersten Mal in seinem Leben ist er auf Tournee. Seit einigen Monaten hat er einen Plattenvertrag. Er wird dafür bezahlt, das zu tun, was er sowieso am liebsten tut, Singen und Gitarre spielen. Eigentlich sollten seine Hautfarbe und seine sexuelle Orientierung keine große Sache sein. Aber die Geschichte der Countrymusik in den USA ist auch eine Geschichte des Landes: eine von Ruhm und der Sehnsucht danach, aber auch von Ausgrenzung und Rassismus.

Für Menschen wie Holden ist ihre Liebe zu Country daher eine komplizierte Sache. Dass er heute auf der Bühne in North Carolina steht, zeugt auch davon, dass die Welt des Country sich schleichend verändert. 

„I’m not a headline for your morning news report / Or a political debate you can retort / I’m a man who had some dreams that got cut short“, sang er gerade noch von der Bühne, „Taxidermy“, sein Lied über Polizeigewalt, das er während der Black-Lives-Matter-Proteste 2020 geschrieben hatte

Schüchtern, fast etwas verloren wirkte Holden, als er mit seiner Gitarre vor den wenigen  Zuschauern im Saal stand. Aber es ist seine Stimme, die berührt. Sie klingt mal sanft, mal schroff und schwermütig. Bevor er zum Gesang ansetzt, erklärt er dem Publikum, wie es für Countrykünstler:innen so typisch ist, die Entstehungsgeschichte jedes Liedes. 

Ich komme aus einer Familie von Zeugen Jehovas. Mein Großvater war Ältester. Als ich mich im Alter von 15 Jahren outete, kam das nicht so gut an, wie man erwarten würde.“ Aus der Menge klingt verhaltenes Gelächter. 

Jett Holden steht mit Gitarre auf der Bühne vor Publikum

Nicht die große Bühne, aber ein Anfang: Holden spielt als Vorband bei einem Konzert in North Carolina

Foto: Marina Klimchuk

Fast ein Jahrhundert lang galt Country als Genre von und für weiße Konservative, die das Leben auf dem Land, Herzschmerz, Gott und ihren Alltag besangen. Auf Konzerten waren kaum Schwarze Fans zu sehen. Dabei hat die Countrymusik eigentlich Schwarze Wurzeln. Trotzdem sind von den 155 Künstler:innen, die die Country Music Hall of Fame seit 1961 auszeichnete, nur drei Schwarz. 

„Wir haben eine fehlerhaft dokumentierte Geschichte dieses Genres“, sagt Nadine Hubbs, Professorin für Frauenforschung und Musik an der University of Michigan, im Videocall. Sie hat das Buch „Rednecks, Queers, and Country Music“ geschrieben. Tatsächlich hätten immer schon auch Schwarze Musiker:innen Countrymusik gemacht, nur sei diese nicht vertont worden. „Was wir gerade erleben, ist eine historische Korrektur von Countrymusik“, sagt Hubbs.

Teil dieser Korrektur ist auch „Cowboy Carter“, das jüngste Album der Sängerin Beyoncé. Sie erhielt dieses Jahr  als erste Schwarze den Grammy für das beste Countryalbum des Jahres. Jahrelang habe Beyoncé für dieses Album recherchiert und ihre eigene und die amerikanische Geschichte verarbeitet, sagt Hubbs. Den Grammy widmete Beyoncé Linda Martell, die als erste Schwarze in der US-amerikanischen Radioshow „Grand Ole Opry“ in Nashville auftrat.

Wer Country spielt und groß rauskommen will, zieht wie Jett Holden nach Nashville, Tennessee, in die Traumfabrik der Industrie im Südosten der USA. Dort sind die meisten Plattenfirmen, Aufnahmestudios und Radiosender beheimatet. Dolly Parton kam 1964 nach ihrem Schulabschluss in die Stadt und begann hier ihre Karriere in den Honky-Tonks-Bars – diese sind manchmal nicht größer als ein Loch in der Wand, aus dem Livemusik gespielt wird. Taylor Swift, die schon als Kind von einer Karriere als Countrysängerin träumte, wurde mit 14 Jahren im „Bluebird Cafe“ entdeckt. In Nashville wirkten Bob Dylan und Elvis Presley, Johnny Cash liegt in der Nähe begraben.

In den 1920er-Jahren kam der Aufstieg des Radios. Um den größten Profit aus dem jungen Genre zu schlagen, schufen Produzenten eine künstliche Trennung zwischen Schwarzer und weißer Musik: Den einen Musikstil nannten sie „race records“, was später zu Rhythm and Blues wurde – moderne Tanzmusik für ein Schwarzes Publikum. Den anderen „Hillbilly music“, später Country: Seelenklang des armen, weißen Südens, der Sound von Bergarbeiter:innen und Landwirt:innen. 

„In der Countrybranche bestimmen die kommerziellen Radiostationen über den Erfolg eines Einzelnen “

„Race records“ und „Hillbilly music“ ähnelten sich anfangs. Aber man etikettierte sie als unterschiedliche Genres. Trotzdem arbeiteten Schwarze Musiker:innen an Hillbilly-Produktionen für das weiße Publikum mit. Doch sie bekamen keine Credits dafür und tauchten auch nicht auf den Werbeplakaten auf. Für eigene Produktionen wurden ihnen trotz ihrer Erfahrungen in der Branche Plattenverträge verwehrt. Sie wurden nicht vertont und so von der Geschichtsschreibung vergessen. 

Zu den frühesten vertonten Berühmtheiten im Country, also „Hillbilly Music“, gehörten die Carter Family und Jimmie Rodgers, der Sohn eines Eisenbahnarbeiters. Ihre Musik spielte das Countryradio. 1930 nahm Rodgers mit dem Schwarzen Jazzmusiker Louis Armstrong und dessen Frau den Song „Blue Yodel No. 9“ auf. Dieser steht repräsentativ für Rodgers’ gefeierten Jodelstil, den er durch die Einflüsse Schwarzer Gleisarbeiter:innen entwickelte.

Einige Wochen vor seinem Auftritt in North Carolina sitzt Jett Holden in Nashville auf dem Sofa seiner Labelchefin Holly G, wie sie sich nur nennt, und erzählt von seinem schicksalsvollen Leben als „the funny guy“. Im Schwarzen Sprachgebrauch, sagt er, sei „funny“ das Codewort für schwul. Seine Familie sind Zeugen Jehovas, das Verhältnis zu ihnen sei schwierig. Jahrelang führte er ein Doppelleben und versteckte seine Sexualität, nachdem er sich als Teenager geoutet hatte und seine Familie ihn nicht akzeptieren wollte. 

Mit Anfang 20 zog er von Virginia nach Kalifornien, um Musik zu machen. Ein Label bot ihm einen Plattenvertrag an. Vor der Unterzeichnung sagte Holden ihnen, dass er schwul ist. „Ihre Reaktion war direkt: Schwarz und schwul, das können wir nicht dem Radiopublikum in Südstaaten wie Georgia, Texas und Tennessee vermarkten.“ 

In der Countrybranche bestimmen die kommerziellen Radiostationen über den Erfolg eines Einzelnen. Oft gespielt und damit groß rausgebracht wird damals wie heute vor allem, wer sich leicht beim konservativen Publikum vermarkten lässt und dadurch Profit bringt. 

2021 gründete Holly G das Schwarze und queere Kollektiv „Black Opry“. Es sollte ein Zuhause für Schwarze Künstler:innen, Fans und alle anderen aus der Industrie von Country, Americana, Blues, Folk und Soul sein, sagt sie. Holly G vernetzte sich in der Szene, trieb Geld auf, organisierte Jamsessions mit Musiker:innen aus dem Establishment und queeren Schwarzen Neuzugängen. Sie zog nach Nashville und begann, Künstler:innen ihres Kollektivs gemeinsam auf Tournee zu schicken und zu promoten.

Holden entdeckte Holly G zufällig auf Instagram, verliebte sich in seine Stimme und gab ihm den ersten Vertrag des aus Black Opry entstandenen Plattenlabels. Sein Publikum ist gemischt. Holden tritt, wie auch in North Carolina, als Vorband für einen bekannten Folksänger auf, pro Gig bekommt er zwischen 300 und 500 Dollar. Das sei ganz in Ordnung, sagt er. Draußen im Foyer liegen Vinyls und CDs von seinem ersten Album „The Phoenix“ aus, die ihn mit Cowboyhut zeigen. Auf Spotify hat er 1.279 monatliche Hörer:innen. Das ist längst nicht so viel wie die Klickzahlen von Lil Nas X, dem großen Schwarzen schwulen Countrystar, der im Jahr 2019 mit „Old Town Road“ einen Hit landete. Kurz darauf outete er sich als schwul: eine Ausnahmeerscheinung. Aber für jemanden wie Holden, der sein ganzes Leben um Anerkennung kämpft, auch nicht wenig. Jahrzehntelang herrschten in der Musikindustrie heteronormative Stereotype und Auffassungen von Maskulinität vor. Queere Künstler:innen wollten ihre Fanbase nicht verschrecken und versteckten ihre Identität. Das Coming-out von Lil Nas X wurde zu einem Wendepunkt: Er war zwar nicht der erste Schwarze Künstler, der sich outete, aber der erste, der mit seinem Erfolg alle Rekorde brach.

Portrait von Jett Holden

Als Holden sich bei einem Plattenlable als schwul outete, ließen sie ihn wieder fallen 

Foto: Marina Klimchuk

Professorin Hubbs beobachtet gegenläufige Entwicklungen im Country-Mainstream: Mittlerweile hören längst nicht nur Konservative Country, sondern auch progressive Schwarze wie Holden und alle anderen. „Die Industrie versucht eine Balance zu finden. Einerseits wollen sie mit dem Zeitgeist gehen und sich Schwarzen und queeren Künstler:innen öffnen, Hörer:innen der Mittelschicht für sich gewinnen. Andererseits wollen sie ihr Stammpublikum nicht vergraulen und sich politisch äußern.“ 

In der Countrybranche bleiben Schwarze Sänger:innen wie auch weiße Frauen unterrepräsentiert. Doch was sich verkauft, verändere sich zunehmend durch die Spotify-Algorithmen. In den vorgeschlagenen Playlists, die von der Plattform zusammengestellt werden, vermischen sich Genres und Identitäten, sagt Hubbs. Das wirkt sich auch auf die Musikindustrie aus. Verkaufserfolg entscheidet sich deshalb nicht mehr nur über Radio und Plattenverträge, sondern an dem, was Hörer:innen in den Spotify-Playlisten mochten. Dort hören viele Country, die mit dem Genre zuvor wenig anfangen konnten. 

Beliebt seien immer noch alteingesessene Country-Darlings wie der rechtskonservative Jason Aldean, der in seinen Liedern rassistische Stereotype bedient. Oder Morgan Wallen, der betrunken gefilmt wurde, wie er das N-Wort sagte. Aber auch Schwarze Künstler:innen wie Shaboozey und Blanco Brown, die in ihren Songs Elemente von Country, Hip-Hop und Soul mischen. Ihre Lieder handeln vom Alltag, von Liebe, Alkohol und Partys. 

Eine Ausnahmeerscheinung ist die Schwarze Sängerin Mickey Guyton, die im vergangenen Jahr auf dem Parteitag der Demokraten auftrat. Sie spricht auch politische Themen an. In ihrem Song „What are you gonna tell her?“ fragt sie sich zum Beispiel, wie sie ihrer Tochter die Ungerechtigkeit der Welt für Schwarze Menschen erklären soll. „Ganz typisch für Country: eine Familiengeschichte mit starker Message, aber ohne anzuklagen“, erklärt Hubbs. 

Auch Jett Holden träumt davon, eines Tages auf großen Bühnen zu stehen und vom Countryradio gespielt zu werden, sagt er. Leben kann er von der Musik noch nicht. Wenn er gerade nicht auf der Bühne steht, sagt er, arbeite er für 14 Dollar Stundenlohn im Supermarkt „Dollar General“ an der Kasse.

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