Selbstliebe ist einfach, denkt man. Besonders wenn andere einen gut aussehend finden, man vielleicht gerade frisches Geld für das eigene Start-up bekommen hat, ins sonnige Kalifornien zieht, bald heiratet und von seinen Eltern geliebt wird. All das traf auf mich zu, und dennoch war ich weit davon entfernt, mich selbst zu mögen.
Das hatte auch damit zu tun, dass ich Menschen, die sich selbst toll finden, eher skeptisch sah. Auf die Predigten der Life-Coaches und Instagrammerinnen, die die Liebe zu sich, ihrem Körper und ihren Fehlern als einfache Lösung versprachen, reagierte ich allergisch. Selbstliebe war für mich nicht mehr als eine Verkaufsstrategie für Lippenstifte, Yogamatten und Nahrungsergänzungsmittel. Eine Freikarte für das Zelebrieren von Eigenschaften, an denen es eigentlich zu arbeiten gilt. Wer am lautesten „Selbstliebe“ schreit, dachte ich, muss wohl der unsicherste Mensch im Raum sein.
Das Konzept Selbstliebe erschien mir als Ausrede, nicht an den eigenen Schwächen arbeiten zu müssen
Im Umkehrschluss trug ich meine Unzufriedenheit mit mir selbst geradezu stolz vor mir her, als Orden wider die Mittelmäßigkeit. Ohne dabei zu merken, dass meine Selbstkritik bereits in eine Art Selbstablehnung umgeschlagen war. Selbst in schönen Erlebnissen sah ich Momente meines Versagens. Kein Schaumbad, keine Therapiestunde, kein gutes Meeting, kein noch so liebes Wort konnte diese Gedanken vertreiben. Meine Krebsdiagnose dagegen schon.
Die Warnungen meines Körpers hatte ich in den Wochen davor ignoriert. Der Umzug auf einen anderen Kontinent, die Hochzeit, die Firma, all das war schön, aber auch: Stress. Die Atemnot bei Schwimmen und das Herzrasen beim Wandern schob ich zunächst auf die Veränderungen in meinem Leben, bis ich mich dann doch durchchecken ließ. An jenem Morgen fuhr ich widerwillig zum Arzt: Es war mir unangenehm, den wirklich Kranken Zeit und den Arzt wegzunehmen. Neun Stunden und zig Untersuchungen später war ich Krebspatientin.
Völlig klar, warum ich beim Sport Probleme gehabt hatte, sagte der Arzt, über meine Patientinnenmappe gebeugt: Er zeigte mir auf dem Röntgenbild einen Tumor, tennisballgroß, der auf meine Lunge und mein Herz drückte und den angemessen gruseligen Namen Non-Hodgkin-B-Zell-Lymphom trug.
Alle drei Wochen nahm ich nun ein Uber für die 30 Kilometer in die Klinik. Und blieb dort eine Woche, damit sie die orangefarbene Flüssigkeit in mich reinpumpen konnten, die den Krebs auffrisst. Ich hatte Schmerzen. Ich habe getrauert. Und gezweifelt. Warum trifft es ausgerechnet mich?
Gut zwei Wochen nach der ersten Chemo wachte ich nur noch mit der Hälfte meiner Locken auf. Jetzt rasierte ich den Rest meines Kopfes. Ich sah aus wie ein blasses, aufgedunsenes Alien. Nicht mal der Face-Scan meines Smartphones erkannte mich noch.
Ich versuchte, mein neues Ich mit der vielen Kopfhaut selbstfreudig anzugehen: als Chance, Schönheit neu zu definieren, mit Perücken und experimentellen Mustern in den Augenbrauen. Und blieb dann doch bei meinem natürlichen Aussehen. Gerade in den Investorenmeetings unter lauter älteren Männern kam mein Glatzkopf, quasi als Solidaritätsbekundung, gut an.
Ich fing nach Jahren wieder an zu malen und machte sexy Selfies in Krankenhausnachthemden
Schließlich fing ich im Krankenhaus zum ersten Mal seit Jahren wieder an zu malen und machte sexy Selfies in diesen Krankenhausnachthemden, die hinten so reizvoll offen sind. Ich wollte weder Mitleid von anderen noch von mir selbst. Ich war entschlossen, die Behandlung wie einen neuen Job anzugehen, gewissenhaft, Chemo für Chemo, eine Woche rein, drei raus.
Sechs Monate ging das so, während der letzten beiden Wochen konnte ich kaum mehr das Handy in der Hand halten. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich die körperliche Erschöpfung nicht mehr mit Disziplin überwinden konnte.
Ich arbeitete weiter Vollzeit, tat aber zum ersten Mal etwas, was mir immer schwergefallen war: Ich gab Arbeit ab. Statt mich fürs Prokrastinieren wie früher zu bestrafen, delegierte ich an andere, was ich nicht mehr fertigbrachte. Ich nahm Auszeiten, ohne mich schuldig zu fühlen. Die Grenzen des eigenen Körpers zu spüren und die Erkenntnis, dass auf schlechte Tage gute folgen, hat mich befreit. Heute quäle ich mich an miesen Tagen nicht mehr unnötig und feiere die Energieschübe der guten Tage ganz bewusst.
Vielleicht habe ich Selbstliebe all die Jahre falsch verstanden. Sie schien mir vor allem das Ergebnis einer fanatischen Arbeit an sich selbst zu sein. Self-Love durch Self-Care. Ziemlich verkrampft. Der deutsche Philosoph Wilhelm Schmid schlägt als Alternative die sogenannte Selbstfreundschaft vor. Sie setzt auf mehr Distanz. Auf einen nachsichtigen und manchmal selbstironischen Umgang mit sich selbst. Eigentlich will Schmid nicht mehr als einen Perspektivwechsel: Sieh dich, wie dich gute Freundinnen und Freunde sehen. Die finden dich auch nicht ugly, nur weil du an den Hüften draufgepackt oder plötzlich eine Glatze hast.
Selbstliebe muss keine verkrampfte Arbeit sein.
Wie wäre es stattdessen mit: Selbstfreundschaft?
Ich bin sicher: Selbstliebe braucht – wie die Liebe auch – ein Gegenüber. Auf der Krebsstation habe ich alle 27 Stationsschwestern kennengelernt und mit ihnen 27 verschiedene Lebensentwürfe. Ich fragte, sie erzählten. Sie schoben mir Nadeln in die Haut, ich gab ihnen Anlagetipps. Wer sich annehmen will, muss lernen, sich Zeit für andere zu nehmen. Heute vergeht keine Woche ohne einen Freitag, an dem ich nicht Fremde beim Schabbat-Dinner zusammenbringe. Oder einen Sonntag, an dem ich nicht mit einer Fahrraddisco in der Stadt unterwegs bin. Lass es ein Klischee sein, aber: Je aufmerksamer ich für die Perspektiven und Bedürfnisse anderer wurde, desto besser erkannte ich meine eigenen.
Die ersten neuen Haare begrüßte ich zwei Monate nach Ende der Chemotherapie mit einem Triumphzug durchs Badezimmer. Um das Ende meines Krebskapitels zu zelebrieren, rasierte ich mich so lange nicht, bis sich meine Achselhaare wieder kringelten.
Dieser Text ist im fluter Nr. 89 „Liebe“ erschienen
Heute fühlt sich jede neue Woche wie ein Glow-up an. Ich bin dankbar für mein Leben und für meinen Körper. Schade, dass er erst ein paar Vitalfunktionen einstellen musste, damit ich das verstehe.
Selbstliebe kann vieles sein und für jeden etwas anderes. Jetzt, wo mein Krebs zumindest fürs Erste weg ist, bedeutet sie für mich eine Befreiung aus den Rollen, in denen ich festzustecken glaubte. So wie ich als Krebskranke innerlich gewachsen bin, will ich jetzt in anderen Rollen wachsen: als Partnerin, Freundin, Tochter, Entertainerin und ab und an auch mal als Trägerin experimenteller Augenbrauen.
Fotos: privat