
Ihr habt es in der Hand
Viele Nachbarländer haben Smartphones an Schulen verboten, hier in Dortmund probieren sie es auch mal aus
Man kann Mohamed – Jogger, gegelte Haare, weiße Sneaker – leicht für einen gewöhnlichen 15-Jährigen halten. Wäre da nicht eins: Sein Smartphone liegt zu Hause. Die Versuchung, es im Unterricht herauszuholen, sei sonst zu groß, erzählt Mohamed, „und wenn sie mich erwischen, kriege ich es erst am Nachmittag zurück“.
Seit diesem Schuljahr gelten an der Schule des Zehntklässlers strenge Regeln. Auf dem gesamten Gelände der Europaschule in Dortmund ist es verboten, das Smartphone zu nutzen. Auch in den Pausen. Wer dagegen verstößt, muss sein Gerät abgeben und kann es am Ende der Mittagspause aus einem zierlichen Holzregal im Lehrerzimmer abholen, dem „Handy-Hotel“.
Für Jörg Girrulat eine notwendige Maßnahme. Obwohl er als Schulleiter keineswegs gegen Digitalisierung sei, im Gegenteil: Die Schule stünde der Lebensrealität der Jugendlichen offen gegenüber. „Deshalb haben wir die Smartphones auch lange in den Pausen erlaubt“, sagt Girrulat und seufzt. „Leider hat das nicht funktioniert.“
„Manche sind erleichtert, weil sie nicht mehr den Druck verspüren, ständig reagieren zu müssen“Jörg Girrulat, Schulleiter
Was der 56-Jährige an diesem Januarfreitag in seinem Büro erzählt, dürfte manchem bekannt vorkommen: Wie schwer es vielen fällt, sich nicht von ihren Geräten ablenken zu lassen. Wie still die Pausen werden, wenn alle Schülerinnen und Schüler an den Screens kleben. Wie sehr sich die Smartphones mittlerweile auch im Unterricht bemerkbar machen.
All das beweist auch die Forschung. 2022 kam die Hattie-Studie zu dem Ergebnis, dass eine massive Smartphone-Nutzung zu Bildungsrückstand führen kann. Und nach jüngsten PISA-Daten wird ein Drittel der Jugendlichen nervös, wenn ihr Smartphone nicht in Reichweite liegt. „Viele sind in Gedanken im Chat oder bei irgendeinem Video, aber nicht bei der Sache“, sagt Girrulat. Es gehe seinem Kollegium aber nicht allein um störungsfreien Unterricht. „Wenn wir beobachten, dass sich junge Menschen nicht vor Apps und Algorithmen schützen können, die so gebaut sind, dass sie süchtig machen, müssen wir als Erwachsene ihnen helfen.“
Andere Länder wie Italien, Frankreich oder die Niederlande haben Smartphones schon größtenteils aus den Schulen verbannt. Die Universität Augsburg hat fünf große Studien aus dem Ausland verglichen, alle kommen zum gleichen Ergebnis: Verbunden mit Angeboten zum verantwortungsvollen Umgang mit Smartphones wirkt sich ein Verbot positiv auf das soziale Wohlbefinden und die Lernleistung aus. Auch in Dortmund hat sich das Verhalten der Schülerinnen und Schüler verändert. Bei den frostigen Temperaturen könnten sie ihre Pause im Schulgebäude verbringen. Aber der riesige Schulhof ist voller rennender und schreiender Jugendlicher. Die älteren spielen Basketball oder stehen in Grüppchen zusammen.
„Wir unterhalten uns mehr“, sagt Noah. Vor dem Verbot hätten sie in den Pausen eigentlich immer Nachrichten gecheckt, erzählt der 16-Jährige, manchmal auch im Unterricht. „Mittlerweile habe ich mir habe ich mir das abgewöhnt.“ Noah findet die neuen Regeln gut, auch wenn ihm die Umstellung nicht leichtgefallen sei. Einigen in seiner Klasse sind die Regeln zu streng. Aber selbst sie sehen die positiven Seiten. „Manche sind erleichtert, weil sie nicht mehr den Druck verspüren, ständig reagieren zu müssen“, sagt Schulleiter Girrulat.
Trotz der guten Erfahrungen, die Schulen mit strikten Regeln machen, sind die Ministerien von einem flächendeckenden Verbot weit entfernt. Die Schulen entscheiden selbst, wie sie mit privaten Smartphones und -watches verfahren. Birgit Eickelmann hält die Zurückhaltung für sinnvoll. „Wenn wir wollen, dass sich Jugendliche selbstkritisch mit ihrer Mediennutzung auseinandersetzen, sollten wir ihnen nicht einfach ein Verbot vorsetzen“, sagt die Professorin für Schulpädagogik der Universität Paderborn. Bestenfalls werde die Handynutzung zwischen Lehrkräften, Eltern und Schülerschaft besprochen, damit sie sich gemeinsam auf Regeln einigen können. So ist auch die Europaschule verfahren. Über Monate wurde ein Verbot diskutiert, dann aber von der Schulkonferenz beschlossen – mit nur wenigen Gegenstimmen.
„Digitaler Unterricht gelingt an vielen Schulen überhaupt nur, weil die Schüler auch ihre privaten Geräte nutzen“Birgit Eickelmann, Professorin für Schulpädagogik
Ein pauschales Handyverbot ist für Eickelmann aus einem weiteren Grund problematisch: Wenn private Geräte aus dem Unterricht verbannt würden, leide vielerorts die digitale Kompetenz. Technisch sind die Schulen sehr unterschiedlich ausgestattet. Vor allem nichtgymnasiale Schulen würden oft schwerer Personal finden und mit älterer IT-Austattung arbeiten, sagt Eickelmann. Bundesweit würden sich gerade im Schnitt vier Schüler ein Gerät teilen. „Digitaler Unterricht gelingt also an vielen Schulen überhaupt nur, weil die Schüler auch ihre privaten Geräte nutzen.“
Das ist an der Europaschule anders. Vor drei Jahren hat sie Tablets für alle Schülerinnen und Schüler erhalten, als erste Gesamtschule in Dortmund, sagt Girrulat. Alle Klassenzimmer haben WLAN und digitale Tafeln, Onlinerecherchen und Lern-Apps gehören fest zum Unterricht. Derzeit testet das Kollegium außerdem eine Software, die mittels künstlicher Intelligenz (KI) Aufgaben in fünf verschiedenen Leistungsniveaus generiert. Girrulat hofft, dass sie die Lehrkräfte entlastet und die Schülerinnen und Schüler individueller fördert. „Für eine so heterogene Schülerschaft wie unsere kann KI ein Gamechanger werden.“
Er kann sich gut vorstellen, dass KI künftig im Unterricht erlaubt ist oder Prüfungen in leichte Sprache übersetzt. Die konsequente Digitalisierung seiner Schule ist für den Schulleiter kein Widerspruch zum Smartphone-Verbot, sondern eine Voraussetzung: Warum private Geräte, wenn die Schule allen ein eigenes Tablet stellen kann?
Eine Mitschülerin von Mohamed hat darauf eine Antwort. Sie fühle sich einsamer ohne ihr Smartphone, erzählt sie. „Wenn man nicht so viele Freunde hat, steht man in den Pausen allein da.“ Auch andere fühlen sich eingeschränkt, Mohamed wünscht sich, dass das Verbot außerhalb des Unterrichts gelockert wird – so wie für die Oberstufe, die die Geräte in ihrem Pausenraum rausholen darf.
Das ist möglich: Ende des Schuljahres wird das Verbot evaluiert, auch die Schülerinnen und Schüler geben Feedback. Über ihre Köpfe hinweg werde nichts entschieden, sagt Girrulat. Allerdings sei sein Eindruck, dass ein Großteil die Regel akzeptiere. Selten kassieren die Lehrkräfte am Tag mehr als sechs Geräte ein, bei rund 1.100 Personen eine ordentliche Quote. Auch an diesem Freitag sind noch Plätze frei im Handy-Hotel. Am Ende der Mittagspause liegen dort zwei Smartphones.
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Titelbild: David Avazzadeh/Connected Archives