Wir können uns darauf verlassen, dass es in unseren Wohnungen und Häusern nicht nur im Sommer, sondern auch im Winter warm und hell ist. Die Bewohner der Cañada Real nicht: Zwei bitterkalte Winter haben sie schon hinter sich. Im Oktober 2020 fiel plötzlich der Strom in Teilen der Siedlung aus – und sprang erst mal nicht wieder an. Um die 4.000 Menschen, darunter viele Kinder, lebten fortan ohne Stromversorgung.
Die Siedlung befindet sich südöstlich der spanischen Hauptstadt Madrid. Sie erstreckt sich 14 Kilometer entlang der Cañada Real Galiana, einer der alten Viehtriebstrecken, die im mittelalterlichen Spanien per königlichem Dekret verwaltet wurden.
Seit Ende der 50er-Jahre wurde die Strecke besiedelt, anfangs nur mit provisorischen Hütten, heute gibt es je nach Sektor auch voll ausgebaute Einfamilienhäuser mit echten Strom- und Wasserleitungen. Nur floss der Strom nie offiziell – die Cañada Real ist die größte informelle Siedlung Europas, also offiziell illegal.
Das Land, auf dem die Häuser stehen, ist unveräußerliches Land im Gemeinbesitz. Über 8.000 Menschen, viele von ihnen Roma oder marokkanischer Herkunft, wohnen hier in sechs Zonen, die aus Verwaltungszwecken eingeführt worden sind. Zone 5 und 6 sind vom Stromausfall betroffen.
Zone 6 gilt als die ärmste und hat einen besonders zweifelhaften Ruf: Die spanische Presse nennt sie den „größten Drogen-Supermarkt Europas“. Laut dem verantwortlichen Anbieter Naturgy sollen Cannabisplantagen den Stromausfall ausgelöst haben: Ihre Betreiber sollen Leitungen angezapft und so viel Strom verbraucht haben, dass das Netz kollabiere. Dass solche Plantagen existieren, bestreiten die Bewohner der Cañada Real gar nicht. Nur bezweifeln sie, dass sie wirklich für den Stromausfall verantwortlich sind. Sie vermuten, der Strombetreiber habe die Leistungsfähigkeit absichtlich heruntergesetzt, um den Stromausfall zu provozieren und sie so zu vertreiben.
Nachdem die Siedlung immer wieder Negativschlagzeilen machte und sich sogar die UN einschaltete, wurde eine interministerielle Kommission gegründet, die das Dilemma lösen sollte. Nun soll das spanische Verkehrsministerium zusammen mit den Gemeinden Rivas und Coslada und der Stadt Madrid einen Plan aufstellen, der mehr als 2.000 gefährdete Familien aus den Sektoren 5 und 6 dauerhaft umsiedelt.
Doch das geht nur schleppend voran: Ende April demonstrierten mehrere Hundert Bewohner der Cañada Real unter dem Motto „Luz, contratos y mesa de seguimiento“ – sie fordern Strom und wollen über die Zukunft der Cañada Real und die Verträge mit dem Stromanbieter mitbestimmen. Obwohl viele Haushalte ordentlich an das Netz angeschlossen sind, müssen sich die Bewohner von Sektor 5 derzeit mit der Nutzung abwechseln, weil das Netz weiterhin instabil ist. In Sektor 6 ist das Licht seit eineinhalb Jahren ganz aus.
Titelbild: Isabel Fernández (80, links), lebt seit 18 Jahren in der Cañada, Ivan (23), Yané (19), Adara (2) und Jose Antonio (5) seit 2012.