Die einzigartige Sprachenvielfalt in Europa ist ein Zeichen für die kulturelle Vielfalt dieses Erdteils. Welche Rolle Kommunikation im Austausch der verschiedenen Kulturen spielt und welche Vorteile Mehrsprachigkeit hat, darüber sprachen wir mit Prof. Dr. Beatrix Kreß von der Uni Hildesheim. Die Sprachwissenschaftlerin forscht zur interkulturellen Kommunikation und zu Migration und Mehrsprachigkeit.
fluter.de: Frau Kreß, Sie unterrichten "Interkulturelle Kommunikation". Welche Rolle spielt die Sprache dabei?
Beatrix Kreß: Für mich als Sprachwissenschaftler spielt sie natürlich eine große Rolle. Kultur und Sprache hängen sehr eng zusammen. Die sozialen und kulturellen Regeln der Gesellschaften lernen wir vor allem durch Kommunikation. Unsere Art, eine Bitte zu formulieren oder nach dem Weg zu fragen, ist stark von unserer Kultur geprägt. Sprachliche und kulturelle Unterschiede liegen deshalb dicht beieinander.
Ich selber spreche kein Spanisch. Habe ich trotzdem eine Chance, Spanien und die Spanier richtig zu verstehen?
Ich kann vieles über fremde Kulturen erfahren, ohne die entsprechende Sprache zu sprechen. Gleichzeitig wird mir ein nicht unwichtiger Teil verschlossen bleiben. Das vollständige Verständnis lässt sich auch nicht durch eine reine Übersetzung, beispielsweise eines Buches, erreichen. Die Übersetzung selbst ist eine Transferleistung – letztendlich ist das Übersetzte aber nicht dasselbe wie das Original, sondern nur etwas meiner Kultur Entsprechendes.
Reicht es eigentlich nicht, wenn man sich in seiner jeweiligen Muttersprache gut auskennt und dazu auch in der Lingua Franca, also Englisch?
Mit dem Beherrschen der Muttersprache und einem guten Englisch wäre sicherlich viel erreicht. Aus meiner Sicht ist es aber ein Fehlschluss, zu glauben, dass eine hundertprozentige Verständigung allein durch gutes Englisch erreicht werden kann. Die europäische Fremdsprachenpolitik geht deshalb darüber hinaus und ermöglicht die Beherrschung noch einer weiteren Fremdsprache neben dem Englischen. Ein tieferes Verständnis für Kulturen erreicht man eben nur durch Mehrsprachigkeit.
Wie gut funktioniert Englisch eigentlich als europaweite Sprache?
Eigentlich funktioniert Englisch tatsächlich ganz gut als eine Lingua Franca. Trotzdem können nur die wenigsten von uns im Englischen alle Zusammenhänge so ausdrücken wie in der eigenen Muttersprache. Genau das führt zu einer gewissen Sprachfrustration. Viele Nicht-Muttersprachler empfinden das Englischsprechen auf der Arbeit als unangenehm. Die ständige Reflexion über mögliche Fehler hemmt den Sprachfluss. Gleichzeitig ist auch das Englische als Fremdsprache kulturell ganz individuell beeinflusst. Wir Europäer bringen viel von unserer Muttersprache ins Englische ein.
Wie wichtig sind denn die Landessprachen in Europa noch?
Es gibt sicherlich europaweit die politische Tendenz, das Englische in den Vordergrund zu stellen. Zum Beispiel versucht man durch die zunehmende Internationalisierung der Hochschulen, mehr Kurse auf Englisch anzubieten, auch um ausländischen Studierenden den Einstieg zu erleichtern. In Hildesheim beobachten wir aber einen Gegentrend: Gerade die Erasmus-Studenten, für die viele dieser Kurse gemacht werden, sagen, dass sie lieber Seminare in der Landessprache belegen. Schließlich seien sie für den Kulturaustausch nach Deutschland gekommen.
Gibt es Europäer, denen eine Mehrsprachigkeit besonders leicht fällt?
Nein, das kann man nicht sagen. Es gibt Herkunftssprachen, die den Erwerb bestimmter Sprachen erschweren oder begünstigen. Das gilt natürlich vor allem für strukturell ähnliche Sprachen. In Europa haben wir das Glück, dass viele Sprachen zu den indoeuropäischen gehören und deshalb systemische Ähnlichkeiten aufweisen. Das erleichtert erst mal das Lernen. Außerdem gibt es in Europa Sprachfamilien, die eng zusammengehören – zum Beispiel die romanischen oder die slawischen Sprachen. Dazu kommen kulturelle Einflussnahmen. Zum Beispiel findet man im Tschechischen viele deutsche Einflüsse, weil es lange ein dichtes Zusammenleben gab.
Gibt es europäische Sprachen, die besonders schwer zugänglich sind?
In Europa gibt es mit dem Finnischen und dem Ungarischem zwei Sprachen, die nicht zum indoeuropäischen Zweig gehören. Beide haben kein flektierendes Sprachsystem, das über Fälle oder Verbkonjugation funktioniert. Finnisch und Ungarisch sind, ähnlich wie das Türkische, "zusammenklebende" Sprachen. Die Beziehungen der Wörter in einem Satz zueinander werden durch Suffixe ausgedrückt. Das stellt eine größere Hürde im Spracherwerb dar.
Kann man eigentlich auch als Erwachsener eine neue Sprache noch richtig gut lernen?
Das ist sehr abhängig von meinem Ziel und davon, wie viel Zeit ich investiere. Natürlich gibt es im Spracherwerb ein kritisches Alter, nach dem es deutlich schwerer wird, eine Sprache auf muttersprachlichem Niveau zu erlernen. Dieses kritische Alter liegt aber im Kindes- bis Jugendalter. Alles außerhalb des muttersprachlichen Niveaus ist es dagegen möglich, egal in welchem Alter. Es ist nur mit einem gewissen Aufwand verbunden.
Wie wichtig ist es heute noch, europäische Sprachen zu lernen? Chinesischkenntnisse wären doch eigentlich wichtiger.
Ich persönlich halte es für problematisch, in der Sprachenpolitik wirtschaftlichen Trends zu folgen. Viele Entwicklungen halten nur kurzzeitig an. Ein gutes Beispiel ist dafür der Deutschboom in Spanien. Die Germanisten dort sprechen auch vom Merkel-Faktor. Wie lange der anhält, weiß eigentlich keiner. Ich selbst habe Slawistik studiert. In den Jahrgängen vor mir gab es den sogenannten Gorbatschow-Faktor, mit vielen Studenten. Als ich wenig später anfing, waren wir nur noch zu zweit im Russisch-Kurs.
Birk Grüling lebt und arbeitet als freier Journalist am Rande von Hamburg. Seine Schwerpunkte sind Reportagen und Interviews rund um Popkultur und Gesellschaft.