
Adresse: Bahnhof Zoo
Dieter Bichler war 2012 für drei Monate obdachlos. Heute erzählt er bei Stadtführungen von seiner Zeit auf der Straße. Unterwegs durch die Berliner City West
Er steht am Bahnhof Zoo, Hardenbergstraße, Ecke Jebensstraße, jene Straßen, die früher sein Zuhause waren. „Seht ihr die Glasfront da oben?“ Dieter Bichler, der lieber Meru genannt wird, deutet auf das Luxushotel Waldorf Astoria, das hinter der Bahntrasse in die Höhe ragt. Dort werden die Gäste auf den verschiedenen Etagen mit dem feinsten Essen versorgt. „Nach sechs Tagen fängt Hunger an wehzutun“, sagt Meru.
Meru ist Stadtführer bei querstadtein. Der Verein zeigt Berlin aus der Perspektive von Obdachlosen, Geflüchteten und Menschen mit Migrationsgeschichte. 2012 war Meru selbst für drei Monate obdachlos. Heute, zwölf Jahre später, zeigt er einer Gruppe sein Leben von damals und macht sie aufmerksam auf das, was man nur sieht, wenn man gelebt hat wie er.

Das vergisst man nie: "Nach sechs Tagen fängt Hunger an wehzutun", sagt Meru
Ein paar Straßen weiter, am Steinplatz, bleibt Meru stehen. „Der Platz hat sich verändert“, sagt er. „Früher gab es hier überall Rasen, auf den Bänken konnte man gut schlafen.“ Auch heute gibt es hier noch viele Bänke, nur darauf liegen kann man nicht mehr: Manche haben eine gewellte, ungerade Sitzfläche, bei anderen wurden kleine Eisenkugeln in gleichmäßigen Abständen auf die Sitzflächen montiert. Meru meint, offiziell würden sie sagen, um die Abstandsregelungen während der Pandemie einzuhalten. Er denke eher, um Obdachlose fernzuhalten. Defensive Architektur oder Hostile Design nennt man diese Art des Bauens, in Großstädten wie Berlin oder Hamburg stößt man immer häufiger darauf.
Merus Leben auf der Straße begann im September 2012. Ohne alles strandete er am Bahnhof Zoo, seine Wohnung in der Nähe von Erfurt hatte er kurz davor verloren. Dort nahm ihn eine Gruppe Obdachloser auf. Billie, Lena und Boris, später kamen noch weitere dazu. Sie organisierten ihm einen Schlafsack und etwas zu essen. Meistens waren sie damals zusammen unterwegs. Schon drei Monate später, noch im selben Jahr, schaffte es Meru von der Straße. Ein Polizist hatte ihm einen Platz in einem betreuten Einzelwohnheim vermittelt, auch seine damalige Schuldenberaterin half ihm, wieder auf die Beine zu kommen. Sein großes Glück, wie er heute sagt.
Wohnungslos ist, wer keinen mietvertraglich abgesicherten oder eigenen Wohnraum hat. Wohnungslose kommen meist in vorübergehenden Unterkünften unter, zum Beispiel in Heimen, bei Bekannten oder in Frauenhäusern.
Obdachlos ist, wer keinen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum und keine sonstige Unterbringung hat. Obdachlose leben und schlafen im öffentlichen Raum – das heißt auf der Straße – oder in Notunterkünften.
Housing First soll Menschen schneller von der Straße holen
Vielen anderen obdachlosen Menschen gelingt der Absprung nicht so schnell – manchen nie. Nach Angaben der Bundesregierung waren Anfang 2024 rund 47.300 Menschen in Deutschland obdachlos. Noch 2022 hatte die Zahl bei 37.400 gelegen. Die EU will Obdachlosigkeit bis 2030 überwunden haben. Erst kürzlich hat die Bundesregierung einen entsprechenden Aktionsplan dafür vorgestellt – er sieht mehr bezahlbaren Wohnraum, eine bessere Akutversorgung für Obdachlose und die Ausweitung von Housing First vor.

Früher lebte Meru in den Straßen um den Bahnhof Zoo, heute zeigt er sie Gruppen bei Stadführungen
Housing First, das ist ein sozialpolitischer Ansatz zur Bekämpfung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit, der ursprünglich aus den USA stammt. Das Prinzip ist einfach: Wohnungs- und Obdachlose erhalten zuallererst eine eigene Wohnung – alles Weitere folgt danach: die Betreuung durch Sozialarbeiter:innen, Schuldenberatung, eine Therapie. Damit unterscheidet sich Housing First von der Praxis, die sich in den dafür zuständigen Städten und Kommunen im Umgang mit Obdachlosigkeit etabliert hat. Eine eigene Wohnung wird dabei in der Regel nur unter bestimmten Voraussetzungen vermittelt. Oder auch: erst die Therapie, der Entzug oder die Schuldentilgung und dann die Wohnung. Housing First dreht diesen Prozess um.
Dass der Ansatz funktionieren kann, zeigt ein Blick nach Finnland: Seitdem Housing First hier 2008 zum zentralen Pfeiler der nationalen Strategie gegen Wohnungs- und Obdachlosigkeit gemacht wurde, soll die Zahl der Obdachlosen um mehr als die Hälfte reduziert worden sein. In Deutschland existiert Housing First bislang nur in Form von Modellprojekten, die in der Regel von den Kommunen und Städten getragen werden. Mit ihrem Aktionsplan will die Regierung das Konzept nun auch hier verbreiten – etwa durch finanzielle Mittel für den Dachverband Housing First oder die Subventionierung von bezahlbarem Wohnraum. Eine Priorisierung auf den Housing-First-Ansatz – wie etwa in Finnland – sieht aber auch der Aktionsplan nicht vor.
Obdachlose sind häufig von Gewalt betroffen
Von den acht, mit denen Meru damals unterwegs war, leben heute nur noch zwei. „Crystal Meth, Alkohol und die Kälte“, sagt er. Eine Freundin wurde nachts in ihrem Schlafsack angezündet. Er klingt abgeklärt, wenn er darüber spricht. Auch er hat die Gewalt gegen Menschen auf der Straße am eigenen Leib erlebt, eines Nachts, als er allein unterwegs war.

Zäune und wenige Bänke: der Savignyplatz in Berlin sieht feinseliger aus durch die Augen eines Menschen, der dort einen Schlafplatz sucht
Vor einer Bank auf dem Savignyplatz bleibt Meru stehen. „Hier wurde ich im Schlaf von der Bank gerissen. Dann traten sechs bis acht Füße auf mich ein.“ Meru konnte in der Dunkelheit nicht erkennen, wer ihn angriff. Sieben Zähne fehlen ihm seither, dazu kamen etliche Brüche im Kiefer, dem Jochbein und den Rippen. Durch die vielen Tritte auf den Kopf verlor er außerdem Erinnerungen aus seinem bisherigen Leben. „Wie ein Film, der anfängt, eine Pause hat und dann weitergeht.“ Bis heute vermisst Meru Bruchstücke seiner Vergangenheit. Seit einigen Jahren nimmt die Gewalt gegen Wohnungs- und Obdachlose nun schon zu. Auf 1.560 Straftaten im Jahr 2018 kommen 2.122 fünf Jahre später, 2023 – ein Anstieg von rund 35 Prozent. Die Gesichter hinter den Zahlen sind oft unbekannt. Manchmal sehen sie so aus wie das von Meru. Besonders für Frauen, das betont er mehrfach, sei das Leben auf der Straße sehr gefährlich.
Heute engagiert sich Dieter Bichler alias Meru ehrenamtlich in verschiedenen Notunterkünften für Geflüchtete und Obdachlose. Dort händigt er Klamotten aus, hilft bei Nachtcafés oder unterstützt Geflüchtete dabei, in Berlin mit wenig Geld zu überleben. Meru erlebt auch dort immer wieder, was Verzweiflung mit Menschen machen kann. Einmal habe es in einer Unterkunft eine heftige Schlägerei gegeben, bis Leute blutend auf dem Boden lagen. Der Grund: Das Essen war alle.
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