Thema – Zahlen

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Aus Mangel an Beweisen

Vergesst Hollywood und Hip-Hop: Die waren Exzentriker machen Mathe! Eine kurze Wissenschaftsgeschichte

Tycho Brahe / Pythagoras

Spätestens als die Klinge seines Gegners sein Gesicht traf, muss sich der dänische Astronom Tycho Brahe 1) gefragt haben, ob es wirklich nötig gewesen war, wegen einer mathematischen Formel ein Duell vom Zaun zu brechen. Tycho, der durch seine hochpräzisen Messverfahren berühmt wurde, hatte an diesem Abend maßlos getrunken und war irgendwann mit einem Cousin in Streit geraten. In nahezu völliger Dunkelheit griffen sie schließlich zu den Degen. Ob es dabei tatsächlich um eine mathematische Formel ging, wie mehrfach überliefert, ist nicht zweifelsfrei geklärt. Fest steht nur: Als Tycho nach dem ersten Schreck sein Gesicht betastete, fehlte etwas – ein ordentlicher Teil seiner Nase. Er trug seitdem eine künstliche aus Metall. Vielleicht das ideale Markenzeichen für einen der größten Exzentriker der Wissenschaftsgeschichte.

Wenn man an die großen Namen der Wissenschaft denkt, denkt man vielleicht an würdevolle Marmorbüsten, an Nobelpreise oder staubige Studierzimmer, in denen vergeistigte Stille herrscht. Aber die Geschichte der Wissenschaft war mitunter recht schrill. Und einige der spannendsten Figuren findet man in den Wissenschaftsdisziplinen, die sich auf die eine oder andere Art mit Zahlen befassen: Astronomie, Physik, Chemie und allen voran in der Mathematik. Sie zog seit jeher Menschen an, deren Ordnungsliebe fast schon ein geistiger Protest ist gegen die schmuddelige Unordnung des Lebens. Menschen wie Pythagoras 2). Der war, pardon, ein kompromissloser Freak. Als er sich wegen seiner revolutionären Ideen in einer Höhle in den Bergen der Insel Samos vor seinen Verfolgern verstecken musste, war er so gierig darauf, sein Wissen irgendjemandem mitzuteilen, dass er – der Legende nach – kurzerhand einem Jungen Geld dafür gegeben haben soll, ihm Matheunterricht geben zu dürfen.

Pythagoras war besessen von der Schönheit der Zahlen. Sie waren für ihn der Wesenskern der Welt. Pure Göttlichkeit. Angeblich ließ er zu Ehren der Götter 100 Ochsen schlachten, nachdem er seinen berühmten Lehrsatz bewiesen hatte. Besonders wichtig war ihm der Unterschied zwischen rationalen und irrationalen Zahlen. Erstere waren ihm heilig, Letztere fand er abstoßend. Als er seinen Schüler Hippasos dabei erwischte, wie der √2 als Dezimalzahl, also als irrationale Zahl, darstellen wollte, soll er befohlen haben, ihn ertränken zu lassen. Wer ist jetzt hier irrational?

Dem Wunsch, in den Zahlen nach Schönheit und Wahrheit zu suchen, sind viele Mathematiker und Mathematikerinnen verfallen. Es wirkt fast so, als ob sie die Mathematik als ein unendlich großes Kunstwerk verstehen, an dem pausenlos gebaut werden muss – um ihrer selbst willen. Jahrhundertelang haben sich Mathematiker und Mathematikerinnen mit hochkomplexen, kaum lösbaren Rätseln beschäftigt, im vollen Bewusstsein von deren Nutzlosigkeit. G. H. Hardy 3), Cambridge-Professor für „Pure Mathematics“, schrieb rückblickend ganz schonungslos: „Ich habe nie etwas Nützliches geschaffen. Gemessen an allen praktischen Kriterien ist der Wert meines Mathematikerlebens gleich null.“

Manche Mathematiker verhielten sich regelrecht divenhaft, wenn es um die konkrete Anwendbarkeit ihrer Forschung ging. Als ein Schüler von Euklid 4) wissen wollte, welchen Nutzen der Lernstoff habe, den sie gerade durchnahmen, soll Euklid zu seinem beistehenden Sklaven gesagt haben: „Gib dem Knaben eine Münze, da er noch aus allem, was er lernt, Nutzen schlagen will.“ Der Schüler wurde angeblich auf Lebenszeit vom Unterricht ausgeschlossen.

Frauen haben es in den Wissenschaften seit jeher besonders schwer, das gilt auch für die Mathematik: Hypatia 5) war eine der größten Mathematikerinnen der Spätantike. Ihre angesehene Stellung als Universalgelehrte, die philosophische Themen in der Öffentlichkeit vortrug, und ihre selbstbewusste Weiblichkeit waren den Vertretern des an Macht gewinnenden Christentums in Alexandria unerträglich. Also versammelte sich im Jahr 415 ein Mob, der Hypatia brutal ermordete: Hypatia wurde mit Scherben zerstückelt und ihre Überreste verbrannt.

Maria Agnesi 6) verweigerte die Académie des Sciences de Paris eine Anstellung – weil sie eine Frau war. Immerhin: Ihre Leistungen in Analysis, Differential- und Integralrechnung waren so beeindruckend, dass ihr der Papst höchstselbst

1750 eine Professur an der Universität von Bologna anbot – die sie allerdings nie annahm. Aber selbst wenn weibliche Mathematikerinnen ausnahmsweise einmal ein bisschen Anerkennung von ihren männlichen Kollegen bekamen, mussten sie viel mehr dafür leisten. Zum Beispiel Emmy Noether 7), die Einstein ein Genie nannte, durfte erst nach langem Rumgedruckse der Fakultätsangehörigen an der Uni Göttingen unterrichten. Und auch nur, weil ihr Kollege David Hilbert argumentierte, dass ihr Geschlecht doch keine Rolle spielen solle, weil man „hier in einer Universität und nicht in einer Badeanstalt“ sei.

So weit schien es für Sophie Germain 8) gar nicht erst zu kommen. Weil ihr Vater ihre Leidenschaft für Mathematik angeblich für unschicklich hielt, soll er Kerzen und den Ofen aus ihrem Zimmer entfernt haben, damit sie nicht mehr heimlich studieren konnte. Sie tat es trotzdem. Um an der École Polytechnique studieren zu können, reichte Germain unter dem Pseudonym Antoine Auguste Le Blanc Lösungen von Übungsaufgaben ein. Die waren so überragend, dass der Professor den Absender persönlich treffen wollte. Als dann Sophie Germain auftauchte, reagierte er positiv und wurde zu ihrem Mentor.

Nicht nur Frauen bekamen zu spüren, dass die Pforten zur Welt der Zahlen von weißen Männern streng bewacht wurden. Elbert Frank Cox 9) schaffte das bis dahin kaum Vorstellbare und promovierte 1925 als erster Schwarzer Mann in den USA – und weltweit – in Mathematik. Als Cox seine Doktorarbeit auch von Universitäten außerhalb der USA anerkennen lassen wollte, wurde sie in England und Deutschland abgelehnt. Erst eine Universität in Japan erkannte ihren Wert an und veröffentlichte sie in ihrem Mathematikjournal.

Aber was treibt Menschen an, selbst angesichts massiver Gegenwehr ihren Zahlenrätseln nachzugehen? Na ja, Mathematiker und Mathematikerinnen wollen, nein, müssen wissen, wie es weitergeht. Wie ein Ereignis auf dem anderen aufbaut. Die Welt der Mathematik bietet viele Theorien, aber oft einen Mangel an Beweisen. Viele sehen genau darin eine unwiderstehliche Herausforderung. Oder wie will man sonst erklären, dass Archimedes 10) selbst dann nicht aufgehört haben soll, an seinen Kugeln und Zylindern zu tüfteln, als bei einer Plünderung ein römischer Soldat in seine Studierstube eindrang und Archimedes ihn nur mit einem genervten „Störe meine Kreise nicht“ verscheuchen wollte? Der Soldat jedenfalls tötete ihn daraufhin.

Évariste Galois 11) wäre so etwas nicht passiert. Er war viel zu ungeduldig, um lange still zu sitzen. Er scheint in seinem kurzen Leben pausenlos durchs nachrevolutionäre Paris gehastet zu sein: Erst mit 15 Jahren kam er mit Mathematik in Kontakt, veröffentlichte mit 17 seine erste Abhandlung und starb mit 20 bei einem Duell. Er wurde zweimal an der École Polytechnique abgelehnt, unter anderem, weil er keine Lust hatte, seine Gedankengänge an der Tafel aufzuschreiben, und weil er beim zweiten Versuch dem Prüfer einen Schwamm an den Kopf warf.

Mathematik funktioniert nur durch ständige gegenseitige Kontrolle – das müssen notgedrungen auch Mathegenies anerkennen

Daneben pflegte Galois einen unbändigen Hass auf Kleriker und Aristokraten und wurde mit 19 Jahren ins Gefängnis geworfen, weil er bei einem Bankett in aller Öffentlichkeit und mit einem Messer in der Hand dem König durch die Blume mit Mord gedroht hatte. Bei der Beerdigung seines Vaters kam es zu einer Schlägerei zwischen revolutionären Republikanern und Königstreuen, bei der sich der Priester eine klaffende Wunde am Kopf zuzog und des Vaters Sarg slapstickmäßig ins Grab geplumpst sein soll. Évariste trank, beleidigte alle und jeden und verfasste gleichzeitig auf höchstem Niveau Beweise zu Polynomen, Permutationen und anderem verwirrenden Mathekram. In seine Aufzeichnungen sind immer wieder Sätze wie „Ich habe keine Zeit“ hineingekritzelt. Und die hatte er wirklich nicht: Sein kurzes Leben endete durch einen Pistolenschuss in den Bauch bei einem Duell, angeblich wegen einer Frau, auf die er noch nicht einmal stand. Bei seiner Beerdigung kam es wieder zu einer Schlägerei.

Galois war trotz seiner hohen Begabung nur einem kleinen Kreis von Sachkundigen bekannt. Und damit teilte er das Schicksal vieler seiner Kollegen und Kolleginnen. Denn zu Lebzeiten besteht der ganze Lohn vieler Mathegenies meist allein darin, dass nur sie selbst und einige wenige Eingeweihte sich über ihre Entdeckungen freuen können. Der Brite Andrew Wiles 12) ist wohl einer der wenigen Mathematiker der Geschichte, dessen Leben je die Welt der Schönen und Reichen berührt hat – wenn auch nur höchst tangential, wie er wohl sagen würde. Als er das sagenumwobene, jahrhundertealte Rätsel um Fermats 13) letzten Satz löste, erreichte er für kurze Zeit eine so große öffentliche Bekanntheit, dass ihm die Fashion-Marke Gap anbot, für ihre nächste Kollektion zu modeln. Wiles lehnte dankend ab.

Besagter Fermats letzter Satz (auch Großer Fermatscher Satz) hat übrigens seine ganz eigene Geschichte: Der Franzose Pierre de Fermat wollte einen Beweis dafür gefunden haben, dass an+ bn= cn keine ganzzahligen Lösungen für n > 2 hat. Das ist eine ziemlich simple Aussage. Und gerade deshalb trieb sie 350 Jahre lang die größten Mathematikerköpfe in den Wahnsinn: Sie schafften es einfach nicht, den Satz zu beweisen. Der Satz wurde zur Legende, und diejenigen, die sich an seinem Beweis versuchten, dürften immer das verschmitzte Grinsen von Fermat im Hinterkopf gehabt haben. Dessen größte Freude war es nämlich, an seine Kollegen mathematische Aussagen, also Sätze, zu schicken mit der Bemerkung, dass er den Beweis dafür gefunden habe. Aber ohne ihn mitzuschicken. Sie sollten sich die Zähne daran ausbeißen. So war es auch mit seinem letzten Satz. In einer Randnotiz seines Exemplars der „Arithmetica“ des Diophant schrieb er zu seinem Satz nur genüsslich: „Ich habe hierfür einen wahrhaft wunderbaren Beweis entdeckt, doch ist dieser Rand hier zu schmal, um ihn zu fassen.“

Nur durch jahrelange obsessive Beschäftigung und unter Nutzung des sogenannten Modularitätssatzes der Japaner Gorō Shimura und Yutaka Taniyama gelang es Andrew Wiles schließlich, ihn zu beweisen. Glaubte er. Denn nachdem er 1993 seinen Beweis der Crème de la Crème der Matheexperten und -expertinnen in Cambridge vorgestellt hatte, machten sich seine Kollegen und Kolleginnen darüber her und versuchten akribisch, einen Fehler in der Beweisführung zu finden – was ihnen auch gelang. Das hatte Wiles wohlgemerkt aber auch in Kauf genommen. Die Mathematik kann nur durch ständige gegenseitige Kontrolle und Widerlegung funktionieren. Ein Jahr später schaffte er es schließlich, den Fehler zu beheben, und wurde zum Jahrhundertgenie ausgerufen.

Wie übrigens auch Peter Scholze 14), der 2018 als erst zweiter Deutscher mit der seit 1936 verliehenen Fields-Medaille ausgezeichnet wurde – inoffiziell auch der Nobelpreis der Mathematik genannt. Schon mit 16 hatte Scholze versucht, Wiles’ Beweis des Fermatschen Satzes zu verstehen, und wurde mit 24 Professor. Das Einzige, was ihm jetzt noch fehlt, um wirklich zur Legende zu werden, sind haarsträubende Eskapaden. Ein Duell zum Beispiel.

Fotos: 1) Leemage/picture alliance,  2) Bible Land Pictures/akg-images, 3) Album/akg-images, 4) akg-images,  5) sciencesource/akg-images, 6) Leemage/picture alliance, 7) adoc-photos/ullstein bild,  8) Science Photo Library/akg-images,  9) Unknown author/commons.wikimedia.org, 10) Bildagentur-online/picture alliance, 11) Science Photo Library/akg-images, 12) LookatSciences/laif,  13) Leemage/picture alliance, 14) AFP via Getty Images

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