In grauer Vorzeit, als die Menschen ihre Informationen noch mühsam aus Zeitungen, Fernsehen und Radio zusammenklauben mussten, hatte einer wie er natürlich keine Chance. Außer dem Verfassungsschutz und ein paar Neonazis aus Sachsen-Anhalt hat sich damals, als er noch Redakteur einer Zeitschrift war, kaum jemand für die Texte von Sven Liebich interessiert. Aber jetzt, wo es Facebook gibt, wo es YouTube gibt, wo Nachrichten von Algorithmen vorsortiert werden und jeder alles in alle Kanäle einspeisen kann, sieht das schon ganz anders aus. Heute entfaltet ein Propagandist wie Sven Liebich auf einmal sein Talent. Plötzlich erreicht er die Menschen da draußen. Plötzlich hören sie ihm zu. Sogar das langatmige Video, in dem er in der Nacht mit dem Skateboard durch Halle fährt und von bösartigen, im Dunkeln lauernden Ausländern schwadroniert, wird 10.000-mal angeschaut.

Sein Interesse gilt weniger der Recherche als größtmöglicher Aufregung, Interaktion und Reichweite im Netz

Der Aufstieg von Liebich begann mit einer Webseite namens Halle-Leaks. In Anlehnung an WikiLeaks, die Plattform, die mit ihren spektakulären Enthüllungen weltweit Schlagzeilen gemacht hatte, gründete er eine vermeintlich journalistische Organisation, die angeblich Korruption, Misswirtschaft und die ganz großen Sauereien aufdecken will. Tatsächlich veröffentlichte er auch einmal geheimes Material. Auf irgendwelchen Wegen landeten bei Liebich Polizeiakten über Hausbesetzer aus Berlin. Doch das, was dann folgte, hatte mit Dokumenten, Enthüllungen und Whistleblowern nichts zu tun. Sein Interesse gilt weniger der Recherche als größtmöglicher Aufregung, Interaktion und Reichweite im Netz. So produziert Liebich in Serie Skandale, die keine sind. Zum Beispiel schreibt er vor einigen Wochen, eine Kindergartenleiterin habe „Flüchtlingen unter Polizeischutz Zugang zu Kindern gewährt“. Die Überschrift setzt er auf ein unscharfes Foto, auf dem man in der Ferne einen Polizisten erahnen kann. Billig gemacht, aber perfekt fürs Facebook-Vorschaubild.

Manche seiner Geschichten haben womöglich sogar einen wahren Kern. Aber eigentlich brauchen sie so etwas gar nicht. Aus einer Schlägerei zwischen zwei betrunkenen Deutschen macht er kurzerhand einen religiös motivierten Anschlag, bei dem ein Junge erschlagen und dessen Vater enthauptet wurde, und erntet dafür im Netz wütendes Geheul. „Krank!! Einfach nur krank! Danke Frau Merkel ganz großes Kino haben sie uns beschert.“ Liebich weiß eben, welche Tonlage er anschlagen muss, damit sein Thema Erregung produziert Einmal montierte er ein Zitat neben das Foto des Bundesjustizministers. „Auch wenn die Ehefrau erst 6 und der Mann 56 ist, können wir nicht einfach unterstellen, die Heirat wäre nicht aus Liebe vollzogen.“ Der Justizminister hatte das so nie gesagt. Liebich behauptete hinterher, das sei auch nicht als Zitat gemeint gewesen. Vielleicht bekäme er damit vor Gericht sogar recht. Im Gegensatz zu Verleumdungen sind Übertreibungen von der Meinungsfreiheit gedeckt. Der Spruch mit dem Justizminister funktionierte für Liebich sehr gut. Der Beitrag auf Halle-Leaks produzierte nach Analysen von Buzzfeed deutlich mehr Facebook-Engagements als die Artikel, die es zum selben Thema bei bild.de und anderen Onlinezeitungen gab.

Irgendwann verlässt das Gerücht den digitalen Raum und schwappt in die reale Welt

Auch die Nachricht von Halle-Leaks über den Kindergarten verbreitet sich schnell. Irgendwann verlässt das Gerücht den digitalen Raum und schwappt in die reale Welt. Die Kita-Leiterin in Merseburg wird von einer ihrer Mitarbeiterinnen gewarnt. Kurz darauf geht es los. Bei ihr klingelt das Telefon, besorgte Eltern fragen, ob denn etwas dran sei an den Vorwürfen. Ob die Kinder sicher seien? Warum denn da auf Facebook stehe, sie habe irgendwelchen Flüchtlingen Kinder zum Vergewaltigen angeboten? Nein, sagt sie. Auf keinen Fall. Das stimme nicht. Immer wieder muss sie sich rechtfertigen. Sie erklärt, dass der Garten der Kita vermüllt gewesen sei, dass der Hausmeister es nicht schaffe und sie deswegen bei einer Organisation um ehrenamtliche Helfer gebeten habe. Gekommen seien syrische Flüchtlinge mit ihrem Betreuer, und die hätten den Garten netterweise, ohne Geld dafür zu bekommen, sauber gemacht. Offenbar hatten drei Frauen aus der Nachbarschaft die Syrer beobachtet. Erst hätten sie rassistische Parolen über den Zaun gerufen, dann Fotos der Helfer gemacht und diese an Halle-Leaks geschickt. Sie sei entsetzt über das, was da im Netz zu lesen sei, sagt die Kita-Leiterin.

„Das Gerücht wächst, indem es sich verbreitet.“ Schon vor über 2.000 Jahren beschrieb der Dichter Vergil das, was heute mit Falschmeldungen geschieht. Rein juristisch ist es zwar möglich, gegen einen Autor wie Sven Liebich vorzugehen und ihn vor Gericht zur Unterlassung, Löschung oder Gegendarstellung seiner Inhalte zu bringen. Doch dasselbe auch mit allen Menschen zu tun, die seine Nachricht weiterverbreitet haben, ist nahezu unmöglich. Auch direkte Beschwerden Betroffener in sozialen Medien ändern nicht viel. Die Leser von Halle-Leaks scheinen keine Zweifel zu hegen. Sie sehen die Welt so, wie sie sie sehen wollen, und kommen offenbar gar nicht auf den Gedanken, dass etwas mit ihren Informationsquellen nicht stimmt.

Er trägt ein Marx-T-Shirt und grölt die Songs einer Nazi-Band

Sven Liebich gibt es nicht nur im Netz, sondern auch in der analogen Welt. Fast jeden Montag steht ein kleiner stoppelwangiger Mann mit einem Mikrofon vor dem Ratshof und wirbt für das, was er den Frieden nennt. „Ich will euch keine Etiketten geben. Ich will hier nicht fragen, wer ist links, wer ist rechts, wer ist Muslim, wer ist Christ. Diese Etiketten, diese ganze Rechts-Links-Scheiße dient den Herrschenden, um unser Volk zu spalten! Und das benutzen sie seit Jahrzehnten erfolgreich!“ Er gibt sich den Anstrich eines aufrichtigen Aktivisten, eines Mannes, der gegen „das System“ kämpft und ideologische Gräben überwinden will. Für Liebich ist es ein Vorteil, dass ihn keiner so richtig einordnen kann. Er fährt Skateboard und trägt Kapuzenpullover. Gerne rennt er auch mit Marx-Engels-Lenin-T-Shirt herum. Am liebsten zitiert er Rudi Dutschke, Brecht und Voltaire. Als Imam hat er sich auch mal verkleidet und dazu aufgerufen, zum Islam zu konvertieren. Aber das war nicht ernst gemeint, sondern nur seine ganz spezielle Art von Humor. Am einen Tag wedelt er mit einem Mitgliedsausweis der Linkspartei herum (die jedoch Wert darauf legt, dass er sich den Ausweis erschummelt habe und nie Mitglied gewesen sei). Am nächsten grölt er auf der Bühne die Lieder einer Neonazi-Band. Wer genau er ist, was genau er eigentlich will, hält er bestmöglich geheim.

Sein Geld verdient Liebich womöglich nicht ganz zufällig mit dem Verkauf von T-Shirts

Sein Geld verdient Liebich womöglich nicht ganz zufällig mit dem Verkauf von T-Shirts. Der Name seines Geschäfts ist genauso unscheinbar und schwer zu deuten wie seine öffentlichen Auftritte. Im Angebot des Ladens findet man einerseits dumpfe Männerscherz- Drucke à la „Mann mit Grill sucht Frau mit Kohle“, aber andererseits eben auch islamfeindliche Sprüche und Pseudo- Wikinger-Prosa. Liebichs Aktivitäten sind ein Dreiklang. Mit seinen Gerüchten betreibt er eine Art von Kreislaufwirtschaft. Weil sie seine Nachrichten lesen und die vermeintlichen Skandale glauben, weil er Unsicherheit und Wut erzeugt, gehen Menschen auf die von ihm beworbenen Demonstrationen und ziehen sich dafür mitunter die extra von ihm designten T-Shirts an (erwähnt sei zum Beispiel das Motiv „Merkel-Jugend“ anlässlich eines Besuchs der Bundeskanzlerin). Das T-Shirt sei eine Propagandawaffe, schreibt Liebich, „weil es – besser als ein Flugblatt – ständig gesehen wird von allen Mitmenschen, die einem über den Weg laufen“. Jüngst hat er ein neues Produkt in sein Sortiment aufgenommen, das verdeutlicht, wie weit er schon mit der Fiktionalisierung der Gegenwart gekommen ist. Wenn die vermeintliche Islamisierung Deutschlands nicht schnell genug voranschreitet, hilft Liebich eben nach. Seine Kunden können bei ihm jetzt Aufkleber in arabischer Schrift mit dem Namen ihrer Heimatstadt oder ihres Dorfes bestellen. Den kleben sie dann auf ihre Ortsschilder. Es wird nicht lange dauern, bis danach auf Facebook jemand die Meldung verbreitet, man habe jetzt offenbar heimlich Arabisch als Amtssprache eingeführt.

Titelfoto: Schellhorn/ullstein bild