Wird man zum Staatsoberhaupt gewählt, telefoniert man sich normalerweise die Ohren heiß. Am anderen Ende: Regierungs- und Staatschefs aus aller Welt, die ihre Glückwünsche aussprechen und gute Zusammenarbeit geloben. Anders in Taiwan: Wer auch immer am Samstag die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen gewinnen wird, kann sein Diensthandy ruhig auf Flugmodus schalten.
Taiwan, offiziell Republik China genannt, hat zwar eine eigene Regierung, Armee und Währung. Weltweit erkennen es aber nur 15 Länder als eigenständigen Staat an; in Europa nur der Vatikan. Alle anderen Staaten pflegen keine offiziellen Beziehungen mit Taiwan – aus Sorge vor wirtschaftlichen und diplomatischen Konsequenzen durch China. Ein Telefonat mit einem taiwanesischen Staatsoberhaupt? Ein Fauxpas mit Folgen, den wohl nur ein Trump nicht scheut.
Früher Diktatur, heute Demokratie
China betrachtet Taiwan als abtrünnige Provinz. Nachdem Mao Zedongs Kommunisten 1949 den chinesischen Bürgerkrieg gewonnen und die Volksrepublik China ausgerufen hatten, zogen sich die unterlegenen Republikaner, die Anhänger der Kuomintang, auf die Insel Taiwan zurück. Ihr Anführer Chiang Kai-shek regierte dort bis 1987 unter Kriegsrecht als Diktator die „Republik China“, stets in der Hoffnung, das Festland eines Tages zurückzuerobern.
Ab den späten Achtzigerjahren entwickelte sich Taiwan dann jedoch schrittweise zu einer Demokratie. Soziale Bewegungen kämpften gegen Zensur und Korruption und für mehr Rechte. 2019 führte Taiwan – gegen viele Widerstände – als erstes asiatische Land sogar die Ehe für alle ein. Und auch wirtschaftlich öffnete und veränderte es sich stark: In Sachen Digitalisierung gilt es mittlerweile als Vorreiter.
Unabhängigkeit? Ja, aber nur ein bisschen
Nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung wünscht sich heute eine Wiedervereinigung mit dem chinesischen Festland. Seine Unabhängigkeit von China hat Taiwan aber nie offiziell proklamiert – aus Angst vor einer militärischen Intervention, die China immer wieder angedroht hat, und wirtschaftlichen Einbrüchen: Aktuell gehen 40 Prozent der Exporte nach China und Hongkong. Noch, wohlgemerkt: Im Rahmen der „New South Bound Policy“ baut Taiwan gerade seine wirtschaftlichen Beziehungen zu anderen Staaten aus.
Heute hat Taiwan ein demokratisches Regierungssystem mit parlamentarischen und präsidentiellen Elementen. Seit 1996 kann die Bevölkerung den Präsidenten oder die Präsidentin direkt für vier Jahre wählen. Die amtierende Präsidentin Tsai Ing-wen und ihre Partei DPP stehen zwar nicht für völlige Unabhängigkeit, sehr wohl aber für mehr Unabhängigkeit. Das soll einen größeren Handlungsspielraum und Sicherheit vor dem chinesischen Militär bringen.
In den aktuellen Umfragen liegt Tsai vorne, vor allem bei der jüngeren Bevölkerung. Engere Beziehungen zur Volksrepublik wollen dagegen die größte Oppositionspartei, die KMT, und ihr Präsidentschaftskandidat Han Kuo-yu. Wobei enger hier viel oder auch sehr wenig heißen kann: Nach der Wahl Tsai Ing-wens vor vier Jahren hatte China alle offiziellen Kontakte zu Taiwan abgebrochen.
Titelbild: Kevin Lee/SZ Photo/laif