* Marsha P. Johnson benutzte für sich selbst die Pronomen she/her, also „sie/ihr“.
Wofür das P in ihrem Namen stehe, fragte ein Richter Marsha P. Johnson, als sie* wieder mal auf der Anklagebank saß. Für „Pay it no mind“, antwortete Marsha. Auf Deutsch sinngemäß: „Kümmer dich nicht darum.“
Nicht nur der Richter bekam diesen Spruch zu hören, sondern auch alle Menschen, die sich nach Marshas Geschlecht erkundigen wollten. „Pay it no mind“ – das brachte ihre Lebenshaltung ganz gut auf den Punkt. Es war eine selbstbewusste Ablehnung aufdringlicher Fragen, ein Aufruf, sich um die wirklich wichtigen Dinge zu kümmern, statt darum, Menschen in Schubladen zu stecken. Und gleichzeitig stellt die Botschaft bis heute Grundsatzfragen: Was wäre, wenn wir jenseits dieser starren Kategorien lebten? Wenn wir die Menschen nicht danach beurteilten, welches Geschlecht sie haben, welche Hautfarbe und wen sie lieben?
Laut und exzentrisch kämpfte die „Bürgermeisterin der Christopher Street“ für gleiche Rechte
Marsha P. Johnson war Aktivistin, Dragqueen, Künstlerin und Sexarbeiterin. Sie gehörte schon in den 1960er-Jahren zu den wichtigsten Figuren der weltweiten Queer-Bewegung. Angetrieben vom Stonewall-Aufstand im Sommer 1969, bei dem es nach einer Razzia in einer Gay-Bar zu Ausschreitungen zwischen der Polizei und LGBTQ+-Personen auf den Straßen New York Citys kam, gründete Marsha gleich mehrere Organisationen, die wichtige Rollen im Kampf für die sexuelle Befreiung spielten. Sie prägte die New Yorker Szene, wurde zur „Bürgermeisterin der Christopher Street“, die bis heute ein ikonischer Ort für die Homosexuellenbewegung ist, und wurde von Andy Warhol porträtiert. Nur jenseits der queeren Welt spielte Marsha P. Johnson, die 1992 unter ungeklärten Umständen starb, sehr lange Zeit kaum eine Rolle. Kein Wunder. Als Schwarze Transfrau aus der Arbeiterklasse war sie in einer Zeit, in der in den USA noch etliche rassistische Gesetze galten (so war es Schwarzen in vielen Bundesstaaten immer noch verboten, Weiße zu heiraten), die pure Provokation. Vor allem, weil sie laut und exzentrisch für Gleichberechtigung eintrat.
Geboren wurde Marsha in einer mittelgroßen Stadt in New Jersey als Malcolm Michaels Jr. – „Geschlecht: männlich“ stand 1945 in ihrer Geburtsurkunde. Doch bereits im Alter von fünf Jahren trug sie zum ersten Mal Kleider, was sie allerdings schnell wieder sein ließ, nachdem andere Kinder sie damit aufgezogen hatten. Auch vor ihren Eltern – ihr Vater arbeitete in einer Autofabrik am Fließband, ihre Mutter half in einem reicheren Haushalt – konnte sie ihre Identität kaum entfalten. Mit 17 zog Marsha nach New York, im Gepäck ein paar Klamotten und kaum mehr als 15 Dollar.
Um zu überleben, ging sie wie viele andere arme queere Jugendliche auf den Strich. Rund um den Times Square, heute berühmt für seine riesigen Leuchtreklamen, suchten Teenager damals nach Freiern. Aus „Black Marsha“, wie sie sich zu Anfang nannte, wurde Marsha P. Johnson – angelehnt an das Restaurant „Howard Johnson’s“, in dem sie viel Zeit verbrachte.
Ging neben Marsha P. Johnson in die Geschichte ein: ein geworfenes Schnapsglas
Im Rotlichtviertel von Manhattan lernte Marsha 1963 die sechs Jahre jüngere Sylvia Rivera kennen, eine queere lateinamerikanische Dragqueen, die ebenfalls in die Geschichte eingehen sollte und um die sie sich fortan großschwesterlich kümmerte. Dabei kämpfte sie selbst ständig ums Überleben: Lange Zeit schlief sie in Kinos oder bei Freundinnen, wurde immer wieder festgenommen, hatte mehrere Nervenzusammenbrüche, kam in die Psychiatrie – und wurde wieder entlassen. Dieses Leben am Abgrund hinderte sie nicht daran, andere Menschen emotional zu unterstützen und ihnen sogar finanziell auszuhelfen. Geld, das sie bekam, gab sie denen, die es noch mehr brauchten als sie.
Dann kam Stonewall, die legendäre Rebellion im Greenwich Village, die zwar nicht nachweislich durch einen Schnapsglaswurf Marshas ausgelöst wurde (wie eine von mehreren Erzählungen behauptet), aber auch dank ihrer Beteiligung das wohl bedeutendste Ereignis der LGBTQ+-Bewegung des 20. Jahrhunderts markiert. Aus den Ausschreitungen wuchs die „Gay Liberation Front“, eine militante Gruppe, die regelmäßige Proteste organisierte und bald Nachahmer auf der ganzen Welt fand. Zusammen mit ihrer Verbündeten Sylvia Rivera gründete Marsha im September 1970 die „Street Transvestite (später: Transgender) Action Revolutionaries“, kurz STAR – ein Kollektiv, das sich um wohnungslose Transkids kümmerte. Im East Village richtete STAR Schlafstätten für obdachlose queere Personen ein und versorgte sie dort auch mit Essen.
Schwarz und trans, dazu aus prekären Verhältnissen: Marsha verkörperte Intersektionalität, bevor es den Begriff überhaupt gab. Sie war eine Vorkämpferin der Homosexuellenbewegung und protestierte zugleich gegen die Dominanz weißer bürgerlicher Schwuler, die Transmenschen manchmal geradezu ablehnten.
„Ich war lange Zeit transphob“, sagt Randy Wicker, der in den 1960er-Jahren zu den bekanntesten schwulen Aktivisten der USA zählte. „Ich dachte, Transsexuelle seien in Wahrheit Homosexuelle, die sich besonders schuldig fühlen.“ Was Transsein wirklich bedeutet, habe er erst später realisiert, erzählt der heute 84-Jährige. Diese Erkenntnis habe er auch Marsha zu verdanken, die zu seiner besten Freundin wurde.
Wicker lebt immer noch in derselben Wohnung in Hoboken, New Jersey, in der er mit Marsha rund zehn Jahre lang zusammenwohnte. Zwei schwarze Engelsfiguren und etliche Fotos erinnern dort an sie. „Meine Wohnung ist ein Tempel für Marsha“, sagt Wicker. „Marsha hat mein Leben verändert. Sie war die großmütigste Person der Welt.“
Es liegt auch an Wicker, dass Marshas Lebenswerk inzwischen nicht nur von der LGBTQ+-Gemeinde wahrgenommen wird. 2012 kam der Dokumentarfilm „Pay It No Mind“ heraus, gespickt mit Wickers Archivmaterial und Erinnerungen. Im selben Jahr wurden die Ermittlungen zu Marshas Tod wieder aufgenommen. Ihre Leiche war im Juli 1992 im Hudson River gefunden worden.
Marsha P. Johnsons Tod ist bis heute ungeklärt
Ob es ein Suizid war, wie die Behörden schnell behaupteten, ist bis heute nicht bewiesen. Wicker und viele andere Freundinnen und Freunde bezweifeln, dass sich Marsha umgebracht hat. Es passte nicht zu ihr, sagen sie. Zu viel Lebensfreude, zu viele Pläne. Ihr Werk jedenfalls bleibt bestehen: 2019 wurde das „Marsha P. Johnson Institute“ gegründet, das sich für Schwarze Transmenschen einsetzt. Seit 2020 gibt es in Brooklyn direkt am Wasser den „Marsha P. Johnson State Park“, ein Jahr später wurde ganz in der Nähe der Stonewall-Bar eine Statue von ihr aufgestellt.
„Marsha war der erste Schwarze Transmensch, den ich je in meinem Leben gesehen habe“, sagt die 22-jährige Qween Jean, eine Schwarze Transfrau, die in New York als Kostümdesignerin arbeitet. Sie habe sie damals in der Bibliothek ihrer Schule auf einem von Andy Warhol aufgenommenen Foto entdeckt. „Das war so ein großer Moment für mich. Ich wollte sofort alles über sie erfahren.“
Qween Jean hat aus ihrer Neugierde eine Lebensaufgabe entwickelt. Als vor einigen Jahren zwei ihr nahestehende Transmenschen starben, fragte sie sich: Würde irgendjemand für mich kämpfen, wenn ich sterbe? Würde sich irgendjemand um Gerechtigkeit bemühen? Sie gründete daraufhin die Organisation „Black Trans Liberation“, die sich besonders für wohnungslose Schwarze Transmenschen einsetzt. Mehr noch als in Statuen oder Filmen lebt so der revolutionäre Geist von Marsha P. Johnson weiter.
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