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„Den Uiguren geht es schlechter als jemals zuvor“

Hunderttausende Uiguren sind in chinesischen Lagern interniert. Seit Corona schaut die Welt weg, sagt der Menschenrechtsaktivist Dolkun Isa

Im November 2019 berichtete ein Netzwerk internationaler Journalisten über Lager in der chinesischen Provinz Xinjiang, in denen systematisch Uiguren eingesperrt werden. Von „Umerziehungsmaßnahmen“ für die muslimische Minderheit war die Rede, von „kulturellem Genozid“, von schlimmen hygienischen Zuständen und von der Willkür, mit der die chinesische Regierung in der Region vorgeht.

China stritt die Vorwürfe ab und sprach von „freiwilligen Bildungsmaßnahmen“. Vertrauliche Dokumente der Kommunistischen Partei, Satellitenbilder und Augenzeugenberichte (die sogenannten „China Cables“) haben die Vorwürfe aber belegt. Der Aufschrei war entsprechend groß – bis die Corona-Krise kam. Was hat sich seitdem getan? Wir haben bei Dolkun Isa nachgefragt, der Präsident des „Weltkongress der Uiguren“ ist und heute in München lebt.

fluter.de: In Zeiten von Corona hört man nur noch wenig aus der Provinz Xinjiang. Hat sich die Situation verbessert?

Dolkun Isa: Nein, im Gegenteil. Den Uiguren geht es schlechter als je zuvor. Es dringt nur wenig aus der Provinz nach außen. Wir wissen aber, dass die chinesische Regierung die Internierung von Uiguren ausgeweitet hat, es sitzen immer mehr Menschen in den Lagern fest. Dass die Welt sich hauptsächlich für das Coronavirus interessiert und die Zustände in Xinjiang vom Radar der Medien verschwunden sind, kommt der Regierung sehr gelegen. 

Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) warnte bereits davor, dass sich das Coronavirus auch in den „Umerziehungslagern“ in Xinjiang ausbreiten könnte. „Eine Epidemie unter den 1,5 Millionen Menschen in den Lagern wäre der Super-GAU“, sagt GfbV-Direktor Ulrich Delius. Haben Sie von Corona-Fällen aus den Lagern gehört?

Die Menschen in den Lagern haben keine Telefone und kein Internet, nur selten kann jemand fliehen. Wir haben also keine gesicherten Erkenntnisse über die Lage vor Ort und wissen einfach nicht, ob und wie viele Fälle es gibt. Wenn die chinesische Regierung sagt, in der Provinz Xinjiang gibt es keine Corona-Infektionen, kann und werde ich das aber nicht glauben.

Offiziell soll es in China kaum noch Corona-Fälle geben, die Zahl der Infizierten ist rapide gesunken.

Ich glaube der Regierung kein Wort. Meiner Meinung nach hat sie von Anfang an über das Virus gelogen, den Zeitpunkt des Ausbruchs in Wuhan und das Ausmaß der Epidemie in China viel zu lange verschwiegen und in Kauf genommen, dass die ganze Welt sich ansteckt. 

Haben Sie noch Kontakt zu Ihrer Familie in China?

Nein. Die meisten Mitglieder meiner Familie sitzen in den Lagern fest. Sicher weiß ich das von meinen beiden Brüdern. Keine Ahnung, wie es meiner Schwester geht und wo sie ist. Meine Mutter ist schon vor zwei Jahren in einem der Lager gestorben. Und nun habe ich aus einem chinesischen Zeitungsbericht erfahren – und das war besonders schlimm für mich –, dass auch mein Vater Anfang des Jahres dort ums Leben gekommen ist. Er war schon über 90 und hat die Zustände wahrscheinlich nicht mehr verkraftet. Genaueres weiß ich nicht über seinen Tod. Die Ungewissheit ist wirklich furchtbar.

Dabei gibt es Augenzeugen, die aus Xinjiang nach Europa gekommen sind. Die Uigurin Asiye Abdulaheb hat mit ihren Berichten aus erster Hand bei den „China Cables“-Recherchen geholfen.

Was Augenzeugen wie sie berichten, ist erschreckend. Aber die Zustände variieren von Lager zu Lager, es gibt ungefähr tausend in der Region. In manchen ist es besonders schlimm. Dort leben 20 oder 30 Menschen in einem kleinen Raum – mit einer Toilette für alle. Sie schlafen auf dem nackten Beton. Die hygienischen Bedingungen sind unzumutbar, es gibt kein Wasser und wenig zu essen. Die Menschen dort arbeiten hart und sterben früh.

„Deutsche Firmen wie VW und Siemens unterstützen die Menschenrechtsverletzungen indirekt“

Die Gefangenen sollen in den Lagern „umerzogen“ werden.

Die Gefangenen werden zum Teil mit Folter zur „Selbstkritik“ gezwungen, also eigenes Fehlverhalten anzuerkennen und Besserung zu geloben. Dabei wissen viele gar nicht, warum sie verhaftet wurden. Aber nicht nur diese Lager, ich nenne sie Konzentrationslager, sind das Problem, sondern die ganze Region. Xinjiang ist ein „Open-Air-Gefängnis“ für mehr als zehn Millionen Menschen. Private Besuche zum Beispiel sind nur für 20 Minuten erlaubt. Überall sind Kameras, jeder Schritt, jedes Telefonat wird aufgezeichnet.

Sie sind seit 1996 in Deutschland im Exil und standen jahrelang auf der Fahndungsliste von Interpol: Auf Veranlassung von China wurden Sie dort als „Terrorist“ gesucht. Können Sie noch zählen, wie oft Sie verhaftet wurden?

Vielleicht zehn Mal? Ich habe aufgehört zu zählen. In den vergangenen 20 Jahren wurde ich immer wieder auf Flughäfen oder Demonstrationen festgesetzt, in Genf, in Seoul, in Frankfurt am Main, manchmal mehrere Tage lang. Bis heute versucht die chinesische Regierung, meine Arbeit als Aktivist für die Rechte der Uiguren zu manipulieren. Hacker haben meine Webseite angegriffen, ab und zu ist mein Telefon blockiert.

Werden Sie heute noch verfolgt?

Ich reise nicht in Länder, die auf der Seite Chinas stehen. Das gilt für einen Großteil der asiatischen Länder, aber auch für Russland und viele andere. Die Gefahr ist zu groß, dass ich dort wieder verhaftet werde. Ich werde auch erpresst: Wenn ich mich äußere, bekomme ich anonyme Drohungen, dass meine in China lebenden Verwandten darunter leiden werden und nicht mehr sicher sind. Sie haben meine Familie als Geisel genommen.

Wie beurteilen Sie die Haltung der internationalen Gemeinschaft? Sind die Bemühungen um die Menschenrechtslage der Uiguren ausreichend?

Die internationale Gemeinschaft und der UN-Sicherheitsrat wissen um die Lage der Uiguren. Ab und zu ist sie Thema bei Versammlungen. Auch Bundeskanzlerin Merkel hat sich schon kritisch geäußert. Aber Worte allein reichen nicht. Eine Studie aus Australien hat ergeben, dass immer noch 83 internationale Firmen in Fabriken produzieren, in denen uigurische Zwangsarbeiter beschäftigt sind. Darunter sind auch deutsche Firmen wie VW und Siemens. Sie unterstützen indirekt die Menschenrechtsverletzungen in den Lagern. Das muss aufhören. Wenn alle Länder zusammenstehen und wirtschaftlichen Druck ausüben, indem sie dort nicht mehr produzieren lassen, müsste China reagieren.

Dolkun Isa, 52, ist in Xinjiang geboren und aufgewachsen. Als Student begann er, sich für die Demokratisierung Xinjiangs zu engagieren, wurde dafür der Uni verwiesen und von der Polizei verfolgt. 1994 floh Isa in die Türkei, 1996 kam er nach Deutschland, seit 2006 ist er deutscher Staatsbürger. München, wo er heute lebt, gilt als politisches Zentrum der Exil-Uiguren: Hier lebt die Hälfte der rund 1.500 in Deutschland lebenden ethnischen Uiguren. Nach seiner Ankunft in Deutschland gründete Isa den Weltkongress der Uiguren (WUC), eine Dachorganisation für 32 uigurische Gruppen in 18 Ländern. Seit 2017 ist Isa Präsident der WUC.

Fotos: Gilles Sabrie/New York Times/Redux/laif

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