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Eine Frage der Perspektive

Wie berichtet man über Protest? Die Dokumentation „Vergiss Meyn Nicht“, die gerade auf der Berlinale läuft, erzählt vom Filmemacher Steffen Meyn, der während der Besetzung des Hambacher Forsts verunglückte

  • 4 Min.
Steffen Meyn

Worum geht’s?

Um Steffen Meyn, der im Herbst 2018 kurz nach seinem 27. Geburtstag im Hambacher Forst ums Leben kam. Der Filmstudent hatte dokumentiert, wie Umweltaktivist:innen das Waldstück besetzten, um zu verhindern, dass es für den Abbau von Braunkohle gerodet wird. Sie bauten unter anderem Baumhäuser: Ein Baum, auf dem ein Mensch lebt, kann nicht einfach gefällt werden, so ihre Logik. Während der Räumung durch die Polizei, die medial viel Aufmerksamkeit erhielt, verunglückte Steffen Meyn schließlich tödlich. Er hatte das Geschehen von oben gefilmt und war mehr als 15 Meter in die Tiefe gestürzt, als eine Hängebrücke zwischen zwei Bäumen unter ihm nachgab.

Wie wird’s erzählt?

Für sein Projekt hatte sich Steffen Meyn eine 360-Grad-Kamera gekauft und auf einen Fahrradhelm montiert. Dieses Videomaterial ist die Grundlage von „Vergiss Meyn Nicht“, wobei die drei Regisseur:innen Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff vor einer großen Aufgabe standen: Sie mussten nicht nur aus 28 Stunden Material die prägnantesten Szenen auswählen, sondern auch jeweils festlegen, welcher Bildausschnitt am passendsten ist. Häufig sehen wir dabei eine breite, an den Rändern wie durch ein Fischauge verzerrte Beinahe-180-Grad-Sicht in Meyns Blickrichtung. Manchmal liegt die Kamera auch herum, und Steffen Meyn ist selbst zu sehen, wie er Gitarre spielt, Auto fährt, etwas isst oder an der Kamera rumfummelt. Die zweite Ebene des Films bilden Interviews mit sieben Aktivist:innen aus dem Wald. Darin erinnern sie sich an Begegnungen mit Meyn oder sprechen ganz generell über ihre Erfahrungen im Hambacher Forst.

Und worum geht’s wirklich?

Um einen Einblick in das Leben und die Innenwelt der Aktivist:innen vor Ort. Den bekommt man einmal durch die Aufnahmen aus dem Wald mit seinen diversen kleineren „Dörfern“. In diese verwegenen Baumhauskonstruktionen, die wirken, als stammten sie aus einem Endzeitfilm, nimmt Steffen Meyn uns mit und zeigt uns, unter welchen Bedingungen dort Menschen leben. In den Interviews zeigen sich alle Beteiligten hyperreflektiert: Sie schildern die Utopie eines hierarchie- und herrschaftsfreien Ortes und wo sie an ihre Grenzen kommt. Sie stellen sich Fragen wie: Was kann man als Einzelner bewirken? Sie beschreiben innere Bruchlinien der Bewegung, etwa den Umgang mit militanter Gewalt, und diskutieren, ob diese der Sache eher dient oder schadet. Und auch praktische Fragen werden beantwortet – zum Beispiel, warum manche Aktivist:innen im Wald permanent vermummt sind.

Vergiss Meyn Nicht
Der „Hambi" aus 360-Grad-Sicht von Steffen Meyn

Wichtig zu wissen:

„Für Steffen“ steht am Anfang des Films, „Du fehlst“ im Abspann. Die drei Regisseur:innen des Films waren Freund:innen und Kommiliton:innen von Steffen Meyn. Und auch wenn „Vergiss Meyn Nicht“ als dokumentarische Arbeit gut funktioniert, auch wenn niemand für das Unglück angeklagt wird, auch wenn die Aktivist:innen sich reflektiert äußern – so ein Film kann eben nicht neutral sein, zudem wir nicht wissen, was weggelassen wurde. Das ist auch gar nicht schlimm, man sollte es nur bedenken. So wie man sich auch bewusst sein sollte, dass Steffen Meyn zwar nicht Teil der Besetzer:innen war, der Bewegung aber durchaus nahestand. Er hat mehrere Nächte mit in den Baumhäusern geschlafen und hatte auch einen „Waldnamen“ wie die meisten anderen Aktivist:innen, die dort anonym agieren wollten. Seiner war „Sonne“.

Eindrücklichste Szenen:

Das sind gleich die allerersten. Der Film beginnt mit den Momenten direkt nach dem Sturz, aufgenommen von Meyns Kamera, die einige Meter weit weggeschleudert wurde. Man ist buchstäblich mitten im Geschehen, hört die Aufregung und verzweifelten Schreie, sieht, wie Polizei und Sanitäter:innen herbeieilen und den Unglücksort abschirmen. Dann wird die Kamera von einem anderen Polizisten aufgesammelt, der sich mit seinen Kollegen beratschlagt, was damit zu tun ist. Danach der Schnitt, ein Jahr zurück, wie Steffen Meyn seine Kamera zum ersten Mal ausprobiert, damit durch seine WG läuft und man erst nach einem Augenblick realisiert: Dieser Mensch dort, der lebt jetzt nicht mehr, und irgendwie nimmt seine Tragödie genau jetzt ihren Anfang.

Lohnt sich das?

Unbedingt. Selbst wenn man mit den Zielen und Methoden der Aktivist:innen des Hambacher Forsts nicht übereinstimmt: Diese Einblicke in ihr Leben und Wirken sind von einer unheimlichen Nähe und Intensität. Und die spezielle Kamera liefert ungewohnte und faszinierende Bilder obendrauf.

Zum Weiterschauen:

Um noch eindrücklicher zu erfahren, was Meyns 360-Grad-Kamera alles kann, lohnt sich ein Blick auf die Webseite seiner ehemaligen Filmhochschule. Hier – man muss etwas nach unten scrollen – sind einige seiner Aufnahmen aus dem Wald hochgeladen, bei denen man als Betrachter komplett frei entscheiden kann, in welche Richtung man schaut.

„Vergiss Meyn Nicht“ feierte im Februar auf der Berlinale Premiere und ist ab dem 21. September in den deutschen Kinos zu sehen. 

Fotos: © MADE IN GERMANY

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.