Anfang November ist die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP zerbrochen. Hat Deutschland jetzt also keine Bundesregierung mehr?
Doch. Es ist lediglich die FDP nicht mehr dabei. Der Bundeskanzler und die meisten Minister:innen sind nach wie vor im Amt, frei gewordene Minister:innenposten wurden schnell nachbesetzt. Theoretisch könnte diese Regierung bis zum ursprünglich geplanten Wahltermin im September 2025 weiterarbeiten.
Und praktisch?
Ist das schwer, denn ohne die FDP hat diese Regierung keine Mehrheit mehr im Bundestag. Und dort werden die Gesetze letztlich beschlossen. Die Minderheitsregierung aus SPD und Grünen muss also für jedes neue Gesetz zusätzliche Stimmen von Abgeordneten anderer Parteien finden. Deswegen sollen die Wahlen vorgezogen werden, und dafür stellt Kanzler Olaf Scholz (SPD) im Dezember die sogenannte Vertrauensfrage.
Von dieser Vertrauensfrage war zuletzt viel die Rede. Was genau passiert da?
Es handelt sich um eine Abstimmung im Bundestag, die einzig der Bundeskanzler beantragen kann. Sie ist im Grundgesetz in Artikel 68 geregelt. Der Bundeskanzler bittet die Abgeordneten, ihm das Vertrauen auszusprechen. Dazu ist eine absolute Mehrheit erforderlich. Der Kanzler kann diese Frage mit einem konkreten politischen Vorhaben verbinden (dazu weiter unten mehr) oder sie einfach so stellen, wie Scholz jetzt.
Was, wenn ein Kanzler die Vertrauensfrage verliert?
Dann kann er den Bundespräsidenten um die Auflösung des Bundestages bitten. Dieser kann das Parlament nun innerhalb von 21 Tagen auflösen – könnte theoretisch aber auch darauf verzichten. Ist der Bundestag aufgelöst, müssen in den darauffolgenden 60 Tagen Neuwahlen stattfinden. Genau das ist die Absicht von Olaf Scholz, und auch die anderen im Bundestag vertretenen Parteien dürften ein Interesse an Neuwahlen haben.
Und wenn die Vertrauensfrage gewonnen wird?
Dann bleibt der Kanzler im Amt. Im aktuellen Fall könnte er die Vertrauensfrage dann theoretisch noch einmal beantragen. Oder versuchen, mit seiner Minderheitsregierung weiterzuregieren. Für die Vertrauensfrage im Dezember ist es allerdings sehr wahrscheinlich, dass Olaf Scholz sie verlieren wird.
Das alles klingt ganz schön kompliziert. Warum löst sich der Bundestag nicht einfach auf?
Weil er das gar nicht kann. Das deutsche Grundgesetz legt fest, dass nur der Bundespräsident das Parlament auflösen und Neuwahlen bestimmen kann, und das auch nur, wenn es a) vorher eine verlorene Vertrauensfrage gab oder wenn b) beim Versuch, einen Kanzler zu wählen, niemand eine Mehrheit bekommt.
Warum ist das so?
Festgelegt haben diese Regeln die Verfasser:innen des Grundgesetzes im Jahr 1949. Dass gleich mehrere Instanzen an der Auflösung beteiligt sind – die Abgeordneten, der Bundeskanzler, der Bundespräsident –, soll die politischen Verhältnisse stabiler machen, als sie es noch in der Weimarer Republik von 1919 bis 1933 waren.
Kann Olaf Scholz nicht einfach zurücktreten?
Stimmt, das wäre theoretisch ebenfalls möglich. Dann müssten die Bundestagsabgeordneten aber erst einmal versuchen, eine:n neue:n Kanzler:in zu wählen. Erst wenn hier niemand eine Mehrheit hat, kann der Bundespräsident das Parlament auflösen.
Und wie sieht es mit einem Misstrauensvotum gegen Kanzler Scholz aus? Dieses Instrument gibt es ja auch noch. Doch wie unterscheidet es sich eigentlich von der Vertrauensfrage?
Bei beiden Verfahren geht es darum, zu prüfen, ob die Regierung noch das Vertrauen des Parlaments hat. Die Vertrauensfrage stellt der Bundeskanzler selbst, beim Misstrauensvotum geht die Initiative dagegen vom Bundestag aus. Um sein Misstrauen auszusprechen, muss der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen neuen Bundeskanzler oder eine neue Bundeskanzlerin wählen. Daher führt das Misstrauensvotum nicht zu Neuwahlen. Ein Misstrauensvotum dürfte aktuell für keine der Parteien eine Option sein.
Okay, eine Vertrauensfrage ist also der einfachste Weg zu Neuwahlen. Aber klingt der Name „Vertrauensfrage“ dafür nicht etwas seltsam?
Es klingt zunächst vielleicht seltsam, dass ein:e Kanzler:in die Vertrauensfrage absichtlich verlieren möchte. Sie hat aber noch eine andere Funktion, bei der es wirklich um Vertrauen geht. Ursprünglich ist die Frage schließlich dazu gedacht, dass sich ein:e Kanzler:in mit einer wackeligen Mehrheit vergewissern kann, dass die Abgeordneten der eigenen Koalition noch hinter ihm oder ihr stehen. Genau das hat Helmut Schmidt (SPD) im Februar 1982 gemacht. Er gewann die Vertrauensfrage – acht Monate später zerbrach seine Koalition mit der FDP allerdings dennoch. Wie oben beschrieben, lässt sich die Vertrauensfrage auch mit einem konkreten politischen Vorhaben verbinden. Diesen Weg wählte Gerhard Schröder (SPD) im November 2001. Damals ging es um die Beteiligung an einem Militäreinsatz in Afghanistan, was einige Abgeordnete der Regierungsparteien SPD und Grüne ablehnten. Schröder verknüpfte eine Zustimmung mit dem Fortbestand der Koalition – und erreichte sein Ziel.
Gab es noch weitere Vertrauensfragen in der Geschichte der BRD?
Ja, 1972 von Willy Brandt (SPD), 1982 von Helmut Kohl (CDU) und 2005 erneut von Gerhard Schröder. Alle drei hatten wie heute das Ziel, Neuwahlen vorzuziehen. Derartige Vertrauensfragen mit der Absicht, sie zu verlieren, werden auch als „unechte Vertrauensfragen“ bezeichnet. Daher gab es Debatten, ob es demokratisch gerechtfertigt sei, dieses Instrument auf diese Weise zu nutzen. Das Bundesverfassungsgericht hat in zwei Verfahren entschieden, dass eine Vertrauensfrage, die auf die Auflösung des Bundestages abzielt, zulässig ist, wenn sie dazu dient, eine ausreichend parlamentarisch verankerte Bundesregierung wiederherzustellen.
Zurück in die Gegenwart: Wie geht es nun konkret weiter?
Den Antrag zur Vertrauensfrage wird Olaf Scholz voraussichtlich am 11. Dezember stellen. In der Bundestagssitzung am 16. Dezember soll dann darüber abgestimmt werden. Verliert Scholz wie erwartet die Vertrauensfrage, wird Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier voraussichtlich am 27. Dezember den Bundestag auflösen. Knapp 60 Tage später wird dann gewählt: Der anvisierte Wahltermin ist Sonntag, der 23. Februar 2025.
Kann die Wahl überhaupt in so kurzer Zeit geplant werden?
Die Kommunen, die vor Ort besonders viel organisieren müssen, sprechen von einer Herausforderung, die aber machbar sei. Damit alles regelgerecht vonstattengeht, muss jetzt allerdings viel in sehr kurzer Zeit passieren: In den Kommunen müssen zum Beispiel Wahlräume gebucht und Wahlvorstehende ernannt werden. Die Parteien müssen ihre Wahllisten rechtzeitig aufstellen, damit diese geprüft und die Wahlzettel gedruckt werden können. Parteien, die es nicht durch Wahlen in den bestehenden Bundestag oder eines der aktuellen Landesparlamente geschafft haben, müssen auch noch eine bestimme Zahl an Unterstützungsunterschriften sammeln und prüfen lassen, um für die Wahl zugelassen zu werden. Kleinstparteien kritisieren bereits, dass sie es dadurch schwerer hätten, an der Wahl im Februar teilzunehmen. Auch die Briefwahlunterlagen müssen versandt werden. Wahlhelfer:innen werden jetzt schon dringend gesucht und dafür zum Beispiel Ehemalige und Mitarbeiter:innen von Behörden angesprochen.
Hat Deutschland dann also ab dem 16. Dezember wirklich keine Bundesregierung mehr? Oder ab dem 27. Dezember?
Die Regierung bleibt geschäftsführend im Amt, bis es eine neue gibt, sogar noch nach dem Wahltermin. Das ist bei normal terminierten Wahlen auch so. Neue Gesetze werden nun zwar üblicherweise nicht mehr auf den Weg gebracht, aber das ist ja nicht alles, was eine Regierung tut. Kanzler und Minister:innen vertreten Deutschland beispielsweise bei internationalen Treffen, die Ministerien haben auch Verwaltungsaufgaben, und sie müssen auf konkrete Notlagen mit Sofortmaßnahmen reagieren können.
Aber ein Parlament gibt es dann nicht mehr? Es ist ja aufgelöst.
Auch das Parlament bleibt bestehen, bis sich das nächste zum ersten Mal versammelt, also: sich konstituiert. Es gibt keine parlamentslose Zeit. Tatsächlich wird die Minderheitsregierung aus SPD und Grünen auch bemüht sein, noch einige Gesetze, die bereits ganz oder fast fertig vorliegen, vom Bundestag beschließen zu lassen. Es wird von ihrem Verhandlungsgeschick mit den übrigen Parteien abhängen, ob sie dafür noch die eine oder andere Mehrheit finden.
Seit 1998 fanden die Bundestagswahlen immer Ende September statt. Sind sie ab sofort immer Ende Februar?
Nicht zwingend. Der jeweils folgende Wahltermin muss mindestens 46 und höchstens 48 Monate nach der ersten Sitzung des Bundestages liegen. Und ein neu gewählter Bundestag muss innerhalb von 30 Tagen seine erste Sitzung abhalten. 30 Tage nach dem 23. Februar 2025 ist der 25. März 2025. Hier noch 48 Monate draufaddiert, und die Bundestagswahl 2029 könnte Ende März stattfinden, die Wahl 2033 dann Ende April. Würde der Bundestag sich umgekehrt schon etwas früher konstituieren und dauerten die nächsten beiden Legislaturperioden nur 46 Monate, läge das Datum der übernächsten Wahl irgendwann im Spätherbst 2032. Das heißt, nach ein paar Zyklen könnte eine Bundestagswahl wieder im September stattfinden und der Wahlkampf bei sommerlichem Wetter. All das setzt natürlich voraus, dass die kommenden Regierungen auch bis zum Ende der Legislaturperioden halten.
Illustration: Alexander Glandien