Berlin glüht. Nicht irgendwo, sondern an der einstigen Prachtstraße der DDR. Die hohen Wohnblöcke in der Karl-Marx-Allee reihen sich kilometerweit aneinander. Mitte Dezember 2018 hängen aus den beigefarbenen und grauen Gebäuden rot leuchtende Tücher. „Rob the Rich“ steht auf einem Banner, „Wohnst du noch oder zitterst du schon?“ auf einem anderen. Die Deutsche Wohnen, ein großer Investor, hatte im Oktober 755 Wohnungen gekauft.
„In mir hat die Übernahme existenzielle Ängste um mein Zuhause geweckt“, sagt Radostina Filipowa, Mitte 40. Seit zehn Jahren wohnt sie in der Karl-Marx-Allee und gehört zum Kernteam der Aktivisten. „Wir hatten sechs Wochen, um uns zu organisieren, und mussten sehr schnell lernen, wie man zum Kämpfer wird“, erzählt Filipowa.
Mittlerweile ist Frühjahr, die roten Tücher sind aus der Karl-Marx-Allee verschwunden. Denn diesen Kampf haben die Bewohner vorerst gewonnen. Eine selten angewandte Klausel im Mietvertrag war ihre schärfste Waffe: Als Mieter haben sie das Vorkaufsrecht. Nur wenn die Mieter ihre Wohnung nicht selbst kaufen wollten, durfte die Deutsche Wohnen zuschlagen. Filipowa klingelte an vielen Türen, um die Mieter aufzuklären und zu überzeugen, das Vorkaufsrecht selbst zu nutzen. Wer das Geld nicht habe, würde es von der Bank bekommen und erhalte eine Garantie, dass die Stadt ihnen die Wohnung direkt nach Erwerb abkaufen wird. Fast jeder zweite Mieter stimmte diesem Verfahren zu. Bis das rechtskräftig ist, können noch zwei bis drei Jahre vergehen. Ein Etappensieg für Filipowa und ihre Mitstreiter*innen.
Der große Ausverkauf
Es fehlt an Wohnraum. Unter Druck geraten vor allem Normal- und Geringverdiener, doch die mit wenig Geld trifft es besonders hart. Anfang der 1990er-Jahre gab es in Deutschland noch etwa drei Millionen Sozialwohnungen. Bis heute hat sich die Anzahl mindestens halbiert. In den 2000er-Jahren verkauften bundesweit viele Kommunen ihren Wohnungsbestand. Die schwarze Null, ein ausgeglichener Haushalt, war das große Ziel.
Auch Berlin machte es so. Die Stadt saß 2005 auf einem riesigen Schuldenberg. Gleichzeitig herrschte Wohnungsleerstand in der jungen Hauptstadt. Der große Hype und Zuzug aus aller Welt sollte erst später einsetzen. So entschied sich damals die Landesregierung aus SPD und der damaligen Linkspartei PDS, den Bestand an Sozialwohnungen zu verkaufen, um die Schulden abzubauen. 200.000 Wohnungen gingen an private Investoren; der städtische Wohnungsbestand wurde beinahe halbiert. 60.000 ehemals städtische Wohnungen sind allein im Besitz der DW, jenem Unternehmen, das auch Filipowas Wohnung in der Karl-Marx-Allee kaufen wollte. Der Börsenwert stieg von rund einer Milliarde Euro 2011 auf aktuell mehr als 13 Milliarden Euro. Wie kann es sein, dass eine Immobilienfirma Gewinne erzielt, wie man sie sonst nur aus dem Silicon Valley kennt?
Wer investiert? „Ganz normale Leute, die für ihr Alter vorsorgen“
Hendrik Ohlman* hat wenig Zeit. Mit Headset und Funktionskleidung steht er vor einem hippen Café in Berlin-Mitte. Er ist Manager in einem mittelgroßen internationalen Immobilienunternehmen. Dreißig Minuten Zeit gibt er sich, um seine Sicht auf die Wohnungskrise darzustellen. Seinen richtigen Namen möchte er nicht in der Zeitung lesen. Vielleicht auch, weil er schon Drohbriefe von Linksradikalen bekam. Damals plante er ein Haus mit Mikroapartments, gedacht vor allem für internationale Student*innen, die für 700 Euro ein möbliertes 18-Quadratmeter-Apartment beziehen können. In einer Stadt, in der sozial verträgliches Bauen Quadratmeterpreise von 6 Euro erfordert, sind die ca. 30 Euro pro Quadratmeter für viele eine Provokation.
„Es ist mir bewusst, dass das ein zweischneidiges Schwert ist. Aber wir müssen die Gewinnerwartung erfüllen“, sagt Ohlman. Der Gewinn lande ja nicht in seiner Tasche. Oft legten Rentenfonds aus Deutschland oder Skandinavien ihr Geld in solchen Gebäuden an: „Also keine bösen Investoren, sondern ganz normale Leute, die für ihr Alter vorsorgen wollen.“
Seit der Finanzkrise von vor zehn Jahren werden die Zinsen niedrig gehalten. Geld, das auf der Bank liegt, verliert an Wert. In Deutschland gibt es laut Ohlmann sieben große Städte, in denen es sich für internationale Investoren lohnt, Geld so anzulegen, dass mehr daraus wird. „Im Vergleich zu London oder Paris sind deutsche Großstadtimmobilien immer noch zu Spottpreisen zu bekommen.“
Berlin ist attraktiv für internationales Kapital. Der Stadtsoziologe Andrej Holm setzt sich dafür ein, dass sich das ändert. Er berät die Landesregierung zum Thema Wohnungspolitik. „Die Berliner Politik hat eine Kehrtwende gemacht“, meint er. Zum ersten Mal seit 20 Jahren werde dem städtischen Wohnungsbau wieder Geld zugeführt. Davor sollte er durch die Privatisierungen lediglich Geld abwerfen. Heute habe die Berliner Regierung das Ziel, wieder so viele Wohnungen selbst zu vermieten, wie sie vor der großen Privatisierungswelle besaß: 482.000. Außerdem solle jede zweite neu gebaute Wohnung von gemeinnützigen Bauträgern errichtet werden; also Unternehmen, die mit dem Vermieten keinen Profit machen müssen. Immer mehr Wohnungen würden durch das Vorkaufsrecht „rekommunalisiert“, so wie in der Karl-Marx-Allee. Und sogar die Bürgerinitiative, die eine Enteignung von Vermietern durchsetzen will, befürwortet Holm.
Lauscht man Holms Aufzählung, entsteht der Eindruck: In der Berliner Wohnungspolitik ist viel Bewegung. Und während die Enteignungsdebatte über die Stadtgrenzen hinweg die Gemüter hochkochen lässt, sind sich Liberale, Linke, Konservative und Grüne in einer Sache einig: Es muss mehr gebaut werden. Doch wie schafft man es, dass auch Wohnraum für Normal- und Geringverdiener entsteht? In Berlin gibt es seit 2014 eine Leitlinie, das Berliner Modell der kooperativen Baulandentwicklung, das privaten Bauträgern vorschreibt, einen Teil der neu gebauten Wohnungen für Menschen mit unteren und mittleren Einkommen zu errichten, und zwar 30 Prozent, wie 2017 festgelegt wurde. Aber dieses Konzept stößt an seine Grenzen. Der Grund: der Boden.
„Wenn Grundstücke weiterhin an den Höchstbietenden versteigert werden – wie soll sich dann etwas ändern?“
Seit 2008 ist der Wert von Grundstücken in Berlin enorm gestiegen; in den meisten Innenstadtbezirken um das Fünf- bis Zehnfache. Das Geld vermehrt sich auf dem Berliner Boden praktisch von selbst. „Leistungslose Bodenwertsteigerung“ heißt das. Die Bundesbank warnte im Februar, dass die Preise für Immobilien und Grundstücke in deutschen Großstädten um bis zu 30 Prozent zu hoch seien.
Andrej Holm glaubt, dass eine höhere Grunderwerbsteuer helfen würde, die Spekulation mit Boden unattraktiv zu machen. Auch Immobilienmakler Ohlmann findet, dass die Politik kreativ werden und sich Instrumente ausdenken muss, um die Spekulation mit Bauland zu verhindern. Er fragt: „Wenn Grundstücke weiterhin an den Höchstbietenden versteigert werden – wie soll sich dann etwas ändern?“
Es ist eine simple Erkenntnis und gleichzeitig ein gewichtiger Grund für die aktuelle Wohnungskrise: Der Boden wird teurer und knapper. Wie das Bauland verteilt wird und wer entscheidet, welche Gebäude darauf errichtet werden, ist daher politisch heiß umkämpft.
Mieterinitiativen wie die aus der Karl-Marx-Allee sind sich einig: Das Bauland sollten nicht diejenigen mit dem meisten Geld bekommen, sondern diejenigen, die das beste Konzept im Sinne des Gemeinwohls anbieten.
„Dass wir aus der Allee fortgejagt werden sollen, war für mich eine kränkende Vorstellung“, sagt Filipowa. Sie wollte nicht tatenlos abwarten, bis etwas passiert, sondern zuversichtlich bleiben. Und kämpfen. Plötzlich ehrenamtliche Aktivistin, lernte sie weitere Berliner Mieterinitiativen kennen. „Es gibt so viele Menschen, die sich gerade auflehnen und sagen: Es reicht.“ Da werde noch viel passieren.
* Name geändert
Titelbild: Sebastian Wells / OSTKREUZ