Mario sitzt mit zwei Freunden an der Theke des Alma Llanera, einem kleinen venezolanischen Restaurant im angesagten Malasaña-Viertel, als plötzlich das Licht ausgeht. „Hombre, wie in Venezuela“, scherzen die drei. Es sind aber nur die Sicherungen des Lokals rausgeflogen. Kein Vergleich zu den häufigen und langen Stromausfällen in der venezolanischen Hauptstadt Caracas. Es waren solche Versorgungsnotstände und die extrem hohe Kriminalität, die Mario vor drei Jahren dazu bewegten, nach Spanien auszuwandern. „Schon damals fiel der Strom einmal im Monat für ein paar Stunden aus“, sagt er. „Heute sind es gerne mal mehrere Tage, wurde mir erzählt.“
Vier Millionen Venezolaner haben das Land verlassen
Die Dunkelheit macht es den Kriminellen leichter in Caracas, Marios Geburtsstadt und eine der gewalttätigsten Städte der Welt. Einmal wäre seine Schwester auf dem Rückweg vom Kino beinahe auf offener Straße entführt worden. „Das war der Punkt, an dem wir beschlossen zu gehen“, sagt Mario.
Die politische und wirtschaftliche Krise der vergangenen Jahre hat zu einem Massenexodus geführt, vier Millionen Venezolaner haben das Land bereits verlassen. Die meisten zog es in die Nachbarstaaten in Südamerika. Aber Schätzungen zufolge sind auch etwa 300.000 Venezolaner nach Spanien geflohen, zur ehemaligen Kolonialmacht.
Mario beantragte hier politisches Asyl. Im Jahr 2018 wurde etwa die Hälfte der Asylanträge in Spanien von Venezolanern gestellt. Zwei Jahre lang besaß Mario die sogenannte „rote Karte“ für Asylbewerber, die ihm erlaubte, arbeiten zu gehen. Der Telekommunikationsingenieur jobbte im Gastgewerbe und später – seiner Ausbildung entsprechend – bei einem Informatikprojekt von IBM.
Dann kam der Rückschlag. Als seine Arbeitsgenehmigung auslief, entschied sich Mario, schwarzzuarbeiten. Die spanischen Behörden hatten venezolanische Antragssteller nicht als politisch verfolgt anerkannt und ihnen kein entsprechendes Visum mit Arbeitsrecht ausgestellt. Die Sicherheitslage in Venezuela ist zwar allgemein angespannt, aber eine „Verfolgung“ ist juristisch gesehen eine individuelle Sache. Seit Juni darf Mario sich wieder auf Stellen bewerben, weil er „aus humanitären Gründen“ eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen hat. Wie Tausende seiner Landsleute profitierte er von einem im März verabschiedeten Gesetz der spanischen Minderheitsregierung. Aufgrund der schweren humanitären Krise in dem lateinamerikanischen Land schuf die Regierung eine Sonderregelung, die nur für Venezolaner gilt.
Migration verändert ein Land – und seine Gastronomie. In der Madrider Innenstadt haben viele neue venezolanische Lokale aufgemacht. Genau dort, zwischen Spezialitäten wie Empanadas und Arepas, trifft man auch Virginia meist. Sie hat gerade Besuch von ihrer Familie aus Venezuela. Was sie ihr in Madrid unbedingt zeigen will: den Mercado de Maravillas, eine beliebte Markthalle im Tetuán-Viertel, wo seit Jahrzehnten eine der größten lateinamerikanischen Communitys zu Hause ist. Auch viele Venezolaner zogen hierher. Auf dem Markt wird mittlerweile jeder zehnte der 200 Stände von Venezolanern betrieben.
„In letzter Zeit merkt man auf der Straße, dass es manchem vielleicht zu viel wird mit so vielen Einwanderern aus Südamerika.“
Virginia, 32 Jahre alt, ist dem wirtschaftlichen Chaos in der Heimat entkommen und hat nach einem Master in Finanzen in Madrid eine Stelle bei Vodafone gefunden. Ihrer privilegierten Situation ist sie sich bewusst: „Es gibt wahnsinnig viele Leute, die in Spanien keinen Job finden, der ihrem Ausbildungsniveau entspricht: Ärzte, Anwälte oder Ingenieure. Ihr wesentliches Problem sind die Papiere.“ Dieses Problem hatte Virginia nicht, weil sie dank ihrer spanischen Wurzeln einen spanischen Pass besitzt.
Unser Autor kommt aus Venezuela. Seit Jahren ist ihm klar: Er muss da raus. Leichter gesagt als getan, so eine Flucht
Wie die meisten Lateinamerikaner hat auch sie es leicht, sich sprachlich und kulturell in Spanien zurechtzufinden. Bis auf ein paar Wörter ist das Spanisch gleich. Brasilianern, Kolumbianern oder Argentiniern hört man schnell an, wo sie herkommen. Venezolaner haben wegen ihres Akzents einen Vorteil: „Ich werde oft für jemand von den Kanarischen Inseln gehalten.“ Seit dem 17. Jahrhundert bis in die 1950er-Jahre wanderten immer wieder Spanier von den Kanarischen Inseln nach Venezuela aus und beeinflussten den dortigen Akzent. „In letzter Zeit merkt man auf der Straße, dass es manchem vielleicht zu viel wird mit so vielen Einwanderern aus Südamerika“, sagt sie. „Aber das ist ja auch normal. Die Spanier merken, dass es doch ganz schön viele sind, die in ihr Land gekommen sind.“
Gerade möchte Virginia nicht zurückkehren, sondern sich ein stabiles Leben in Europa aufbauen. Und Mario? Der will seine in Spanien gesammelten Erfahrungen mit zurück nach Venezuela nehmen: „Um einen kleinen Teil dazu beizutragen, dass das Land wieder hochkommt. Ich hoffe, das wird schon bald sein.“
Fotos: César Dezfuli