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„Im Unterricht sollen sie lernen, Russland zu lieben“

Alisa Kovalenko hat eine Doku über Jugendliche in der Ostukraine gedreht – und ist dann selbst an die Front

  • 5 Min.
We will not fade away

„We will not fade away“ (My ne zgasnemo) von Alisa Kovalenko porträtiert fünf Jugendliche, die zwischen 2019 und 2022 in der ostukrainischen Donbass-Region aufwachsen. Seit 2014 kämpft dort das ukrainische Militär gegen prorussische Separatisten. Für ihre Dokumentation, die gerade in der Berlinale-Jugendsektion Generation 14plus Premiere feierte, begleitete Kovalenko, Jahrgang 1987, die Jugendlichen Andriy, Lera, Liza, Illia und Ruslan in ihrem Alltag. Nur eine gemeinsame Reise in das Himalaja-Gebirge, die der ukrainische Forscher Valentyn Shcherbachev organisiert, ermöglicht ihnen eine kurze Auszeit von der Gewalt.

fluter.de: Ihre Dokumentation „We will not fade away“ spielt im Donbass, allerdings vor Beginn des russischen Angriffskriegs. Wissen Sie, wie es aktuell dort aussieht?

Alisa Kovalenko: Manche Teile sind komplett zerstört, da ist niemand mehr. Andere sind besetzt. Dort werden die Menschen mit russischer Propaganda übersät, auch an den Schulen. Im Unterricht sollen diese Kinder lernen, Russland zu lieben. Die meisten Teenager*innen sind proukrainisch eingestellt und haben deshalb große Angst, ins Visier der Polizei oder der russischen Sicherheitsbehörde zu geraten. Es ist sehr bedrückend.

Das Gebiet ist seit 2014 umkämpft. Die Jugendlichen, die Sie in Ihrem Film porträtieren, können sich kaum an Zeiten ohne Kriegsgeschehen erinnern. Wie unterscheiden sich ihre Leben von denen anderer Heranwachsender?

Sie haben dieselben Probleme wie andere Jugendliche. Da kommen der Krieg und das Leben in einer abgeschotteten Region halt nur obendrauf. Sie alle haben ein Kriegstrauma, auch wenn sie das nicht unbedingt realisieren, und trotzdem versuchen sie, Spaß zu haben in ihrem Leben. Aber wegen der traumatischen Erfahrungen fällt es ihnen schwer, an sich selbst zu glauben. Zum Beispiel, dass sie es an die Uni schaffen könnten. Deswegen wiederholt Andriy im Film auch: „Ich werde nie etwas im Leben erreichen.“

„Ich hatte das Gefühl, den Glauben an das Kino zu verlieren“

Wie muss ich mir das ganz konkret vorstellen, im Donbass aufzuwachsen?

Das Problem ist nicht nur der Krieg. Natürlich sind es harte Umstände mit den andauernden Kampfhandlungen, aber es kommt der Moment, an dem man sich als junger Mensch daran gewöhnt hat. Gleichzeitig leben Jugendliche dort ziemlich isoliert, weit weg von großen Städten. Es fehlt an Infrastruktur, etwa an guten Schulen. Diese Gegend entwickelt sich nicht, sie stirbt eher aus. Das Problem gibt es auch anderswo, aber der Krieg beschleunigt das Aussterben dieses ehemaligen Industriestandorts. Im Donbass gibt es viele Kohleminen, die meisten sollen allerdings in den nächsten Jahren schließen. Fast alle Eltern der Jugendlichen aus dem Film haben in den Minen gearbeitet. Die junge Generation will das nicht, sie will andere Orte entdecken. Aber wie sollst du dir das leisten, nach Kiew oder in eine andere Großstadt zu ziehen, wenn du aus armen Verhältnissen stammst? Junge Menschen aus dem Donbass müssen wirklich für ihre Träume kämpfen, mehr als andere Kinder.

Sie haben die Jugendlichen über etwa drei Jahre begleitet, unter anderem auf eine Reise in den Himalaja. Inwiefern hat dieses Filmprojekt sich auf die fünf ausgewirkt?

Ich denke, es hat ihnen geholfen. Die Jugendlichen und ich hatten eine starke emotionale Bindung. Ich glaube fest an sie, und das habe ich ihnen auch gezeigt. Und zu sehen, dass jemand an sie glaubt, hat ihnen geholfen, mehr an sich selbst zu glauben. Dazu hat auch die Expedition beigetragen: Da konnten sie nicht nur mal durchatmen, in eine andere Welt eintauchen und die nepalesischen Berge sehen. Symbolisch ging es genauso darum, seine eigenen Gipfel zu bezwingen. Sie haben das Gefühl bekommen, dass sie wirklich etwas erreichen können in ihrem Leben. Das hat ihnen Hoffnung und inneren Halt gegeben.

"We Will Not Fade Away" (My ne zgasnemo) | Trailer | Berlinale 2023

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Der Film endet mit dem Beginn der russischen Invasion der Ukraine vor einem Jahr.

Wir saßen gerade am Rohschnitt des Films, als sich die Situation an der Grenze zuspitzte. Ich hatte bereits geplant, für weitere Soundaufnahmen noch mal in den Donbass zu fahren, und wollte auch die Stimmung der Jugendlichen einfangen. Als der Krieg ausbrach, saß ich gerade im Nachtzug Richtung Donbass. Bei der Ankunft holten Andriy und sein Vater mich am Bahnhof ab. Es war total surreal: Auf der Autofahrt wurde im Radio zur Evakuierung der ganzen Gegend aufgerufen. Alle Geschäfte waren schon geschlossen, keine Menschen zu sehen, nur Panzer auf der Straße. Und wir fuhren in Richtung Front, weil deren Dorf sich halt dort befindet. Nach einem Tag hatte ich das Gefühl, nicht mehr filmen zu können. Emotional war das sehr hart. Ich blieb eine Weile da. Ruslan lebt in der Nähe, deswegen konnte ich auch mit ihm Zeit verbringen. Ich wollte ihnen helfen zu fliehen, aber sie wollten nicht. Der Wohnort der anderen Jugendlichen fiel nach drei Tagen unter russische Besatzung. Es wurde unmöglich, da hinzukommen. Letztendlich gelang es mir, Liza zu evakuieren. Danach hatte ich das Gefühl, den Glauben an das Kino zu verlieren, und ging an die Front, um zu kämpfen.

Nach vier Monaten bei einer freiwilligen Kampfeinheit der ukrainischen Streitkräfte verließen Sie die Front wieder, um den Film fertigzustellen. Was hat Sie umgestimmt?

Ich ließ mich überzeugen, dass ich eine Verantwortung habe, den Film fertigzustellen, gerade den Mitwirkenden gegenüber. Und natürlich gibt es auch eine kulturelle Front: Es ist wichtig, den Film und seine Botschaft unter die Leute zu bringen.

Was für eine Botschaft ist das?

Der Ursprungsgedanke war, einen Film über die Kraft von Träumen zu machen. Nun wurden durch den Angriffskrieg viele Hoffnungen genommen und Träume zerstört. Aber du musst trotzdem daran glauben, dass du mit der Strahlkraft deiner Träume auch alles andere aufleuchten lassen kannst.

Am Ende des Films erfahren wir, dass der Kontakt zu Ruslan und Illia abgebrochen ist. Haben Sie seither etwas von ihnen gehört?

Nein. Mit Ruslan und seiner Familie stand ich noch im Austausch, als ich an der Front war. Weil ich die Situation dort miterlebte, versuchte ich immer wieder, sie zum Gehen zu überreden. Aber dann brach auf einmal jeglicher Kontakt ab. Ich weiß, dass ihr Wohnort unter russischer Besatzung ist. Von Illia hatte ich ein paar Anrufe erhalten, und dann verschwand auch er von der Bildfläche. Er hatte sehr große Angst um seine Großeltern, bei denen er lebt. Ich mache mir große Sorgen um ihn. Ich glaube nicht, dass er die russischen Checkpoints überqueren kann. Ihm bleiben nur illegale Wege. Und die sind sehr gefährlich.

Das Interview wurde aus dem Englischen übersetzt. „We will not fade away“ (My ne zgasnemo) ist noch am 24. und 25. Februar auf der Berlinale zu sehen.

Titelbild: Alisa Kovalenko 

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.