Vor wenigen Wochen trat in der Ukraine ein Gesetz in Kraft, das Schlimmes erahnen ließ. Seit dem 01. Januar 2022 gehören die sogenannten Territorialen Verteidigungseinheiten offiziell zur ukrainischen Armee. Und mit ihnen Lehrer, Ärztinnen, Unternehmer oder Rentnerinnen.
Es gibt mehr als 20 solcher Verteidigungseinheiten im Land, jede Region hat eigene. Sie bilden eine Art Reserveheer, für das sich jede:r volljährige Bürger:in melden kann. 11.000 waren es laut ukrainischer Regierung bis Anfang Januar.
Die ersten Einheiten gründeten sich 2014 als Russland die Halbinsel Krim besetzte. Davor hätte sich wohl kaum jemand freiwillig für eine Militärsportgruppe gemeldet. Aber die Besetzung der Krim, die Kämpfe um die „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk und russische Truppen im Grenzgebiet schürten bei vielen über Jahre die Angst vor einem Angriff Russlands – der jetzt erfolgt ist.
Immer mehr Bürger:innen wollten lernen, wie sie ihre Heimat im Ernstfall verteidigen oder das Heer hinter der Front entlasten können, indem sie zentrale Infrastruktur bewachen, etwa Wasserwerke, Funkmasten, Archive oder Brücken.
Der Fotograf Sasha Maslov hat eine solche Wehrübung Ende Januar (also vor der russischen Invasion) in einem Vorort von Kiew fotografiert. Noch zu Beginn des Jahres trafen sich die Einheiten regelmäßig für Schießübungen, Drills und Trainingslager, meist geleitet von Veteranen, die in der Ostukraine gegen Separatisten gekämpft haben.
Keinen Monat später muss die Territoriale Verteidigung von Kiew russische Truppen abwehren. Die ukrainische Hauptstadt steht unter schwerem Beschuss. Auf Satellitenaufnahmen sind kilometerlange Konvois von russischen Panzern und anderen Militärfahrzeugen zu erkennen, die sich auf Kiew zubewegen.
Die Ukraine wehrt sich. Aber insgesamt scheint das Land den russischen Invasoren deutlich unterlegen. Die größte Streitmacht Europas (900.000 Soldat:innen und zwei Millionen Reservist:innen) trifft auf 200.000 ukrainische Soldat:innen – und 900.000 Reservist:innen. (Anm. d. Red.: Solche Zahlen sind allenfalls Schätzungen – und unterscheiden sich teils sehr. Wir zitieren hier einen Bericht des International Institute for Strategic Studies.)
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verkündete deshalb nach Kriegsausbruch die Generalmobilmachung. Männer im wehrfähigen Alter, also zwischen 18 und 60 Jahren, dürfen das Land nicht verlassen, neben Freiwilligen, Strafgefangenen und anderen Reservist:innen sollen auch die Territorialen Verteidigungen für die Ukraine kämpfen.
Seit der Gründung der ersten Verteidigungseinheiten wird diskutiert, ob sie es Gewalttäter:innen oder Extremist:innen nicht zu leicht machen, sich auszubilden und zu bewaffnen. Neue Mitglieder mussten deshalb körperliche und psychologische Untersuchungen bestehen, nachweisen, dass sie nie für schwere Verbrechen verurteilt wurden, und sich offiziell registrieren.
Solche Eignungsprüfungen sind im Chaos des Krieges kaum aufrechtzuerhalten: Mehrere ukrainische Regionen melden bereits einen Andrang auf ihre Territorialen Verteidigungen, der kaum zu bewältigen sei.
Viele Ukrainer:innen ziehen spätestens seit Selenskyjs Aufforderung auf eigene Faust ins Gefecht. Für nicht ausgebildete und schlecht ausgerüstete Zivilist:innen besteht im Krieg nicht nur das Risiko, zu sterben, verwundet oder traumatisiert zu werden. Sie verletzen auch das humanitäre Völkerrecht.
Das gibt dem Krieg Regeln, die international verbindlich sind. Zum Beispiel müssen Soldat:innen klar erkennbar sein, damit sie von der Zivilbevölkerung zu unterscheiden sind. Wer gezielt Zivilpersonen beschießt, begeht ein Kriegsverbrechen.
Mitglieder der Territorialen Verteidigung tragen deshalb im Einsatz Uniformen (oder zumindest ein gelbes Band am Oberarm), zeigen Kampfausrüstung und Waffen offen. Sie sind rechtmäßig am Kampf gegen die russische Armee beteiligt. Sollten sie sich ergeben müssen, erhalten sie damit als Kriegsgefangene besondere Rechte. Ihre Ehre muss geachtet, sie dürfen nicht gegen ihr Heimatland eingesetzt und nur unter bestimmten Bedingungen zur Arbeit gezwungen werden.