Thema – Ukraine

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Mehr als Molotow

In der Ukraine ziehen auch Lehrer, Köche und Rentner in den Krieg. Der Fotograf Sasha Maslov hat Zivilisten begleitet, die sich für die russische Invasion gerüstet haben

Right To Defend, Right To Resist

Vor wenigen Wochen trat in der Ukraine ein Gesetz in Kraft, das Schlimmes erahnen ließ. Seit dem 01. Januar 2022 gehören die sogenannten Territorialen Verteidigungseinheiten offiziell zur ukrainischen Armee. Und mit ihnen Lehrer, Ärztinnen, Unternehmer oder Rentnerinnen.

Es gibt mehr als 20 solcher Verteidigungseinheiten im Land, jede Region hat eigene. Sie bilden eine Art Reserveheer, für das sich jede:r volljährige Bürger:in melden kann. 11.000 waren es laut ukrainischer Regierung bis Anfang Januar.

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Maryana Zhaglo, 52
Das neue Gesetz über die „Grundlagen des nationalen Widerstands“ erlaubt Mitgliedern der Territorialen Verteidigung, private Waffen legal zu nutzen. Maryana Zhaglo hat eine Zbroyar Z-15 gekauft, ein ukrainisches Gewehr. Die 52-Jährige kommt aus Kiew und arbeitet eigentlich als Marketinganalystin. Zhaglo will ihre Heimat verteidigen und ihre drei Kinder.

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Maryana Zhaglo, 52
Ein Freund, der vor prorussischen Separatisten aus Donezk geflohen ist, riet ihr, sich bei der Territorialen Verteidigung zu melden. „Meine ganze Familie ist hier. Wir können nirgendwohin, und wir sollten nirgendwohin. Die Ukraine ist mein Land, ich möchte es verteidigen.“

Die ersten Einheiten gründeten sich 2014 als Russland die Halbinsel Krim besetzte. Davor hätte sich wohl kaum jemand freiwillig für eine Militärsportgruppe gemeldet. Aber die Besetzung der Krimdie Kämpfe um die „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk und russische Truppen im Grenzgebiet schürten bei vielen über Jahre die Angst vor einem Angriff Russlands – der jetzt erfolgt ist.

Immer mehr Bürger:innen wollten lernen, wie sie ihre Heimat im Ernstfall verteidigen oder das Heer hinter der Front entlasten können, indem sie zentrale Infrastruktur bewachen, etwa Wasserwerke, Funkmasten, Archive oder Brücken.

Der Fotograf Sasha Maslov hat eine solche Wehrübung Ende Januar (also vor der russischen Invasion) in einem Vorort von Kiew fotografiert. Noch zu Beginn des Jahres trafen sich die Einheiten regelmäßig für Schießübungen, Drills und Trainingslager, meist geleitet von Veteranen, die in der Ostukraine gegen Separatisten gekämpft haben.

Right To Defend, Right To Resist

Keinen Monat später muss die Territoriale Verteidigung von Kiew russische Truppen abwehren. Die ukrainische Hauptstadt steht unter schwerem Beschuss. Auf Satellitenaufnahmen sind kilometerlange Konvois von russischen Panzern und anderen Militärfahrzeugen zu erkennen, die sich auf Kiew zubewegen.

Die Ukraine wehrt sich. Aber insgesamt scheint das Land den russischen Invasoren deutlich unterlegen. Die größte Streitmacht Europas (900.000 Soldat:innen und zwei Millionen Reservist:innen) trifft auf 200.000 ukrainische Soldat:innen – und 900.000 Reservist:innen. (Anm. d. Red.: Solche Zahlen sind allenfalls Schätzungen – und unterscheiden sich teils sehr. Wir zitieren hier einen Bericht des International Institute for Strategic Studies.)

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verkündete deshalb nach Kriegsausbruch die Generalmobilmachung. Männer im wehrfähigen Alter, also zwischen 18 und 60 Jahren, dürfen das Land nicht verlassen, neben Freiwilligen, Strafgefangenen und anderen Reservist:innen sollen auch die Territorialen Verteidigungen für die Ukraine kämpfen.

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Borys Cherkas, 45
Borys Cherkas, 45, hat einen Doktortitel in Geschichte, arbeitet an der Nationalen Akademie der Wissenschaften und in Teilzeit als Lehrer. Sprich: Cherkas hat sich zeitlebens als jemanden gesehen, der die Geschicke der Ukraine studiert, nicht als jemanden, der sie mitbestimmt. Bis er sich 2017 als Reservist meldete. „Russland versucht, uns unser Land zu nehmen“, sagt Cherkas, „und mit ihm unsere nationale Identität.“

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Borys Cherkas, 45
Vom Konzept der Territorialen Verteidigung war er sofort überzeugt. In der Geschichte habe ziviler Widerstand, ob aktiv oder passiv, den Besatzungsmächten das Leben immer schwer gemacht, sagt Cherkas. Er ist überrascht, wie viele ältere Freiwillige sich in den vergangenen Monaten gemeldet haben. „Ich finde, unsere Jugend darf nicht als letzte Verteidigungslinie herhalten. Jetzt müssen auch ältere Leute den Kampf aufnehmen.“
Right To Defend, Right To Resist

Seit der Gründung der ersten Verteidigungseinheiten wird diskutiert, ob sie es Gewalttäter:innen oder Extremist:innen nicht zu leicht machen, sich auszubilden und zu bewaffnen. Neue Mitglieder mussten deshalb körperliche und psychologische Untersuchungen bestehen, nachweisen, dass sie nie für schwere Verbrechen verurteilt wurden, und sich offiziell registrieren.

Solche Eignungsprüfungen sind im Chaos des Krieges kaum aufrechtzuerhalten: Mehrere ukrainische Regionen melden bereits einen Andrang auf ihre Territorialen Verteidigungen, der kaum zu bewältigen sei.

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Yuriy Boyko, 68
Yuriy Boyko hat Erfahrung im Tarnanzug: 1970 trat er seinen Militärdienst in der sowjetischen Armee an und brachte es bis zum Oberst. Nach dem Zerfall der Sowjetunion blieb Boyko bis zu seiner Pensionierung in der ukrainischen Armee und gründete anschließend ein IT-Unternehmen.

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Yuriy Boyko, 68
Mit seinen 68 Jahren gilt Boyko eigentlich als zu alt für einen Einsatz in der Territorialen Verteidigung. Im Falle einer Invasion wolle er sich aber wehren, sagte er noch im Januar. „Ich hoffe, wir können dem Feind zeigen, dass wir vorbereitet sind für einen Massenwiderstand.“

Viele Ukrainer:innen ziehen spätestens seit Selenskyjs Aufforderung auf eigene Faust ins Gefecht. Für nicht ausgebildete und schlecht ausgerüstete Zivilist:innen besteht im Krieg nicht nur das Risiko, zu sterben, verwundet oder traumatisiert zu werden. Sie verletzen auch das humanitäre Völkerrecht.

Das gibt dem Krieg Regeln, die international verbindlich sind. Zum Beispiel müssen Soldat:innen klar erkennbar sein, damit sie von der Zivilbevölkerung zu unterscheiden sind. Wer gezielt Zivilpersonen beschießt, begeht ein Kriegsverbrechen.

Mitglieder der Territorialen Verteidigung tragen deshalb im Einsatz Uniformen (oder zumindest ein gelbes Band am Oberarm), zeigen Kampfausrüstung und Waffen offen. Sie sind rechtmäßig am Kampf gegen die russische Armee beteiligt. Sollten sie sich ergeben müssen, erhalten sie damit als Kriegsgefangene besondere Rechte. Ihre Ehre muss geachtet, sie dürfen nicht gegen ihr Heimatland eingesetzt und nur unter bestimmten Bedingungen zur Arbeit gezwungen werden.

Right To Defend, Right To Resist

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.