Am besten trifft es, wie ein bekannter französischer Politologe noch vor Kurzem Emmanuel Macron beschrieb: Macron, den die Franzosen mit 66 Prozent der gültigen Stimmen (vorläufiges Endergebnis Stand 01.54 Uhr) zu ihrem neuen Staatschef wählten, sei im Grunde ein UPO – ein unbekanntes politisches Objekt. Nie zuvor in ein politisches Amt gewählt, erst vor wenigen Jahren per Quereinstieg in die Politik gerutscht, parteilos, so trat der ehemalige Banker zum Wahlkampf um die Präsidentschaft an. „Weder rechts noch links“, als Mann der Mitte, so positionierte sich Macron gegenüber den etablierten Parteien.

„Ultra-diplômé“ nennen die Franzosen einen Überflieger wie Macron

Der 39-Jährige – einen so jungen Staatschef hatte Frankreich noch nie – mag der breiten französischen Öffentlichkeit erst seit wenigen Monaten bekannt sein.

 


Dabei hat Macron alle Stationen durchlaufen, die in Frankreich für eine Spitzenkarriere nötig sind: Erst mal Abitur auf dem namhaften Lycée Henri-IV in Paris, dann ein Studium an den beiden Pariser Kaderschmieden, aus denen traditionell die französische Führungselite hervorgeht: Institut d’Études Politiques de Paris, kurz „Sciences Po“ – check. École nationale d’administration, kurz ENA – check. Nicht einmal zehn Prozent der Bewerber schaffen es auf diese Hochschulen. „Ultra-diplômé“ nennen die Franzosen einen Überflieger wie Macron.

Mit dem ENA-Diplom in der Tasche bekommt Macron zunächst einen prestigeträchtigen Posten als Finanzinspektor beim Staat. Im Herbst 2008, wenige Tage nach dem Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers, auf dem Höhepunkt der weltweiten Finanzkrise, wechselt der Sohn zweier Ärzte aus dem nordfranzösischen Amiens in die freie Wirtschaft – ins Bankhaus Rothschild & Cie. Nach nur vier Jahren begleitet er dort eine der größten Übernahmen des Jahres, deren Wert mit neun Milliarden Euro beziffert wird. Bei Rothschild heißt es, er wäre „einer der Besten in Frankreich, zweifellos auch in Europa“ geworden, wenn er weitergemacht hätte. Macron habe eine „sehr seltene Mischung“ aus Auffassungsgabe, Urteilskraft und Arbeitseifer sowie Charme.

Gespürt, dass die etablierten Parteien „verbraucht, müde, alt“ sind

Zu dieser Zeit war längst auch der sozialistische Staatschef François Hollande auf den smarten Banker aufmerksam geworden. Er bot ihm im Sommer 2012 einen Posten als Berater an, Macron schlug ein. Mitglied in Hollandes Partei, der Parti Socialiste (PS), war Macron da schon lange nicht mehr: Als Finanzinspektor hatte er mal kurz Beiträge an die PS gezahlt, ohne sich nennenswert in der Partei zu engagieren. Als er bei Rothschild war, trat er wieder aus. Zwei Jahre nach Macrons Beratereinstieg in die Politik, im August 2014, ernannte Hollande ihn zum Wirtschaftsminister – mit nur 36 Jahren übernahm Macron eines der wichtigsten Regierungsressorts. Und begriff gerade als Außenstehender, als Neuankömmling sehr schnell, woran das politische System in Frankreich krankt: Macron habe gespürt, dass die etablierten Parteien „verbraucht, müde, alt“ seien, stellte der scheidende Staatschef Hollande jüngst fest.

Dazu kam, dass die Konservativen sich im Wahlkampf selbst zerlegten: François Fillon, früherer Regierungschef, war bei der Urwahl im November überraschend als haushoher Sieger hervorgegangen und hatte bereits beste Aussichten auf das höchste Amt im Staat – da sabotierte er sich durch eine monatelange Scheinbeschäftigungsaffäre um seine Kinder und seine Frau. Während Ermittler sein Haus durchsuchten und immer weitere belastende Details ans Licht kamen, erging sich Fillon vor den Kameras in Verschwörungstheorien. Den Franzosen gab das Verhalten des vermeintlichen Saubermanns den Rest: Bei der ersten Wahlrunde vor zwei Wochen flogen die etablierten Parteien in hohem Bogen raus.

Er hat früh erkennen lassen, dass er beharrlich ist, auch dass er sich nicht um Konventionen schert

Macron hat als Staatschef für die kommenden fünf Jahre schwierige Aufgaben vor sich. Unter anderem will er die Staatsfinanzen in Ordnung bringen, überfällige Reformen anstoßen, um den fortschreitenden Niedergang der französischen Industrie aufhalten und die Arbeitslosigkeit in den Griff bekommen – knapp ein Viertel der jungen Franzosen findet keinen Job –, sowie Europa stärken. Wie das gehen soll, weiß Macron wohl selbst noch nicht so genau. „Ja, wir werden in zwei Wochen gewinnen“, sagte er wenige Tage nach der ersten Wahlrunde bei einem Treffen mit aufgebrachten Fabrikarbeitern in Amiens, die um ihren Arbeitsplatz bangen und die ihn, den ehemaligen Banker, zunächst ausgebuht hatten. „Die Frage ist, was wir gemeinsam machen werden.“ Sie hätten „einen Berg“ zu bewältigen.

Aber es ist vermutlich eine Aufgabe genau nach Macrons Geschmack. Der neue Präsident hat früh erkennen lassen, dass er beharrlich ist, auch dass er sich nicht um Konventionen schert. Mit 16 Jahren verliebte Emmanuel Macron sich in seine Lehrerin – Brigitte Trogneux, 24 Jahre älter als er, verheiratet, Mutter dreier Kinder. Sie versuchte zu widerstehen, ihm und sich die ungewöhnliche Beziehung auszureden, aber gegen Macrons Entschlossenheit kam sie nicht an. „Ich werde zurückkommen und ich werde Sie heiraten“, prophezeite er, als er ein Jahr vor dem Abi nach Paris ans Lycée Henri-IV wechselte. Stunden- und tagelang hätten sie telefoniert, erzählte Brigitte Trogneux in einer Fernsehsendung. Nach und nach habe er ihren Widerstand gebrochen, auf „unglaubliche Art“: mit seiner Geduld. Seitdem sind die beiden ein Paar, 2007 heirateten sie.

Seine eigene Bewegung EnMarche! wird für eine stabile Mehrheit nicht ausreichen

 

Offen ist noch, wie Macron seine Regierungsmannschaft zusammenstellt. Klar ist aber, dass es viele neue Köpfe im Kabinett geben wird. Seit 30 Jahren sehe er „dieselben Gesichter“ in der Politik, hatte Macron im Wahlkampf gesagt, „so kann es nicht weitergehen“. Erneuerung ist das Stichwort auch hier. Natürlich sind einige bekannte Vertreter der Sozialistischen Partei im Gespräch, unter ihnen Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian. In den Reihen der Konservativen hat Macron auch ausgelotet, wer für eine Zusammenarbeit zur Verfügung stünde; ein Name, der in den vergangenen Tagen öfter fiel, ist der des früheren Arbeitsministers Xavier Bertrand. Daneben wird Macron mehrere Quereinsteiger „aus der Zivilgesellschaft“ ins Kabinett holen.

Um seine politischen Ziele zu erreichen, braucht der neue Präsident jedoch vor allem eine stabile Mehrheit im Parlament. Seine eigene Bewegung EnMarche!, die er vor einem Jahr gegründet hat, wird dafür nicht ausreichen – nachdem er sich von den etablierten Parteien losgesagt hat, kommt es bei der Parlamentswahl im Juni nun darauf an, ob er eine Koalition aus Konservativen und Sozialisten schmieden kann.

Als erste Frau in Frankreich bekleidete Edith Cresson 1991 kurzzeitig das Amt der Premierministerin. Nach gut 25 Jahren könnte es nun erneut eine Regierungschefin geben. „Natürlich werde ich einen Regierungschef nicht danach aussuchen, ob es eine Frau ist“, hatte Macron bereits im März gesagt. „Ich werde den kompetentesten, den fähigsten Regierungschef aussuchen, mit dem Wunsch und dem Willen, dass es auch eine Frau sein soll.“

Fotos: Vincent Ngyuen/Riva Press/laif (Titelbild) und Lagoutte/M.Y.O.P./laif