Die Wege sind zugeschneit, sie führen zu Baracken, deren Dächer ebenso vom Schnee zugedeckt und deren grüne Fenstergiebel die einzigen Farbtupfer weit und breit sind. Alles ist von einem Zaun umgeben. Er besteht aus etwa zwei Meter hohen Holzlatten, die bisweilen nicht sicher zu sein scheinen, in welche Richtung sie jetzt lieber umfallen wollen: hinaus, ins Freie – oder hinein, ins Lager. Bedrückend wirkt vor allem die Stille, denn kein Auto ist zu hören, auch kein Tier aus den nahen Wäldern. Diese Wälder wirken endlos, als würde jemand, der von hier zu Fuß aufbricht, wohin auch immer, einfach verschluckt werden.
Perm 36 ist ein einzigartiger Ort, denn es ist das letzte noch zu Lebzeiten des früheren Sowjet-Diktators Josef Stalin errichtete Gefangenenlager, das weitgehend erhalten geblieben und nun eine Gedenkstätte ist. Es liegt im Nordural, 80 Kilometer Luftlinie von der Millionenstadt Perm und 1.200 Kilometer von Moskau entfernt. Seit mehreren Jahren tobt ein politischer Kampf um das Lager, der beispielhaft ist für das Verhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft in Russland. Denn die Gedenkstätte wurde von Aktivisten aufgebaut – und gegen deren Willen 2014 vom Staat übernommen. Darum ist es eine aktuell hochumstrittene politische Frage, welche Akzente das Museum setzt.
Ausgestorben wirkende Dörfer und undurchdringliche Wälder, windschiefe Hütten und schließlich die Sicherheitszäune des Lagers – schon die Anfahrt ist beklemmend. Alles scheint authentisch. In den Baracken hingegen wird schon ein nicht mehr ganz so düsteres Bild vermittelt. In einer gibt es eine Ausstellung über die Rolle der Insassen für die Holzwirtschaft.
Allein bis zu Stalins Tod im Jahr 1953 wurden mindestens 1,6 Millionen Menschen im Gulag umgebracht oder starben an Kälte, Essensmangel und Überarbeitung
In einer anderen zeigen Karten, welche Fabriken die Gefangenen in der gesamten Sowjetunion errichtet haben. Hier erscheint es ganz so, als sei das Lagersystem Teil einer Art Marshallplan zum Aufbau des Landes gewesen, den sich die Sowjetunion selbst zugestanden hatte. Als sei es Teil einer Geschichte, die nur von Aufbruch und Prosperität handelt. Dabei wäre auch von den vielen Unschuldigen zu reden, die hier einsaßen und zum Beispiel nur wegen ihrer politischen Ansichten ins Lager mussten. Auch um Zahlen wird in den aktuellen politischen Auseinandersetzungen hart gerungen, aber es gibt heute recht verlässliche Schätzungen, die auf Daten aus den nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geöffneten Archiven beruhen: Demnach wurden allein bis zu Stalins Tod im Jahr 1953 mindestens 1,6 Millionen Menschen im Gulag umgebracht oder starben an Kälte, Essensmangel und Überarbeitung.
Der Staat übernimmt das Gedenken
Heute sind es vor allem die Ausstellungen in den Baracken, die sich seit der staatlichen Übernahme des Museums geändert haben, auch manch eine frisch gestrichene Wand wirkt etwas fehl am Platze. In einem Raum einer Baracke, die früher für besonders schweren Strafvollzug gedacht war, stehen neue Stühle, seidene Vorhänge an den Wänden lassen eine fast schon heimelige Atmosphäre aufkommen. Andere Räume wirken dagegen karg und kalt, als hätte sie der letzte Gefangene gerade erst verlassen. Insgesamt macht das Museum einen seltsam uneinheitlichen Eindruck.
Das Gesicht der vom Staat abgesetzten Aktivisten ist Tatjana Kursina. Die Mittsechzigerin mit den rötlichen Haaren empfängt im städtischen Kulturzentrum von Perm, einem schmucken Gebäude im Zentrum, in dem sie eine Ausstellung zum Lagersystem zeigt – aus ihrer kritischen Perspektive. „Als ich zum ersten Mal nach meiner Ausbootung nach Perm 36 gefahren bin, haben Arbeiter da gerade ein großes Metalltor zersägt. Ich habe einen Anfall bekommen!“, sagt Kursina.
„Die wissen gar nicht, was für eine wertvolle geschichtliche Stätte sie da vor sich haben.“
Für sie ist das zersägte Tor symptomatisch dafür, wie unachtsam die neue Leitung mit der Geschichte umgeht. An den von der Regionalregierung eingesetzten Leuten lässt Kursina, selbst studierte Historikerin, auch sonst kein gutes Haar. „Die wissen gar nicht, was für eine wertvolle geschichtliche Stätte sie da vor sich haben.“
Deshalb präsentiert sie im Kulturzentrum eben vor allem persönliche Schicksale von Gefangenen und geht auf die politische Dimension staatlicher Repressionen der Sowjetzeit ein. „Ich war in den Achtzigern nie selbst Dissidentin“, erklärt Kursina. „Als wir losfuhren, um ein angebliches Lager politischer Gefangener zu entdecken, habe ich gehofft, wir finden nichts.“ Doch nach einigen Stunden Fahrt entdeckten sie die Überreste des Lagers – eines Lagers, in dem vor allem zwischen 1972 und 1987 viele „Politische“ einsaßen, also Menschen, die wegen ihrer Überzeugung verurteilt wurden. Die Urteile ergingen oft wegen „antisowjetischer Agitation und Propaganda“, eine wirkliche Chance, sich vor Gericht zu verteidigen, hatten die Angeklagten in diesen Schauprozessen nicht. Mit vielen von ihnen wurden später Interviews geführt, so konnte das Leben hinter dem Sicherheitszaun rekonstruiert werden. Kursina, ihr Mann Wiktor Schmyrow und viele andere richteten das Lager ab den frühen 90er-Jahren als Gedenkstätte ein. Freiwillige halfen ihnen dabei, auch viele aus Deutschland.
Die staatliche Übernahme beschreiben sowohl Kursina als auch zahlreiche Artikel als eine Inszenierung in vielen Akten. Zuwendungen für Strom und Wasser wurden gekürzt, staatliche Fernsehsender griffen die Macher als vaterlandslose Gesellen an, Überprüfungen der Bücher folgten, Gerichtsprozesse wurden angestrebt. Am Ende gaben die Aktivisten auf.
Tatjana Kursina redet schnell und viel. Unterbrechen lässt sie sich nur von Marlene Dietrich, deren Stimme erklingt, wenn Kursinas Handy klingelt. „Ich habe mein Leben den Opfern staatlicher Repressionen gewidmet – und jetzt bin ich selbst vom Staat drangsaliert worden“, sagt Kursina dann und muss angesichts dieser Ironie bitter schmunzeln. Ein offizielles Statement dazu, warum die Gedenkstätte von staatlichen Stellen übernommen worden ist, hat es bis heute nicht gegeben. „Am Ende wurden wir rausgeworfen, weil der Ort, den wir erschaffen haben, zu frei war“, sagt Kursina.
Bis 2012 fand in Perm 36 jedes Jahr das Festival Pilorama statt und machte die Gedenkstätte zu einem Ort der Meinung und lebendigen Debatte. Ausgerechnet im ehemaligen Lager in Perm war ein Ort entstanden, den viele als den freiesten Ort Russlands empfanden. Perm, die Industriestadt im tiefen Norden, war in den Nullerjahren als Kunstmetropole aufgeblüht, ein liberaler Gouverneur hatte „Kulturträger“ aus Moskau geholt – ein deutsches Wort, das auch im Russischen gebraucht wird. Es gab Konzerte, Ausstellungen und ein Museum für moderne Kunst. Doch auf diesen Permer Frühling folgte ein harter Winter.
Mit Petition und Start-Up das Gedenken erkämpfen
„Perm 36 ist ein Lackmustest dafür, was mit unserer Erinnerungskultur passiert.“ Dieser Satz stammt von Robert Latypow, dem Leiter des lokalen Büros der Menschenrechtsorganisation Memorial in Perm. Aussprechen tut er ihn im spärlich eingerichteten Büro der Nichtregierungsorganisation, die sich der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetzeit widmet. Ein bisschen sieht es da so aus wie bei einem Start-up, das auf 80er-Jahre macht, mit vielen Röhrenbildschirmen und noch mehr Chaos, Zetteln, Postern und Aufstellern. Latypow ist 44 Jahre alt, ein energischer Mann, der vor Ungeduld mit den Füßen tippelt, während er erzählt. „Als die Regionalregierung Perm 36 übernommen hat, war das zunächst furchtbar. Die haben daraus ein Museum der Wächter gemacht.“ Doch dann sei der radikale Schwenk teilweise wieder rückgängig gemacht worden. „Der russischen Regierung sind Nationalisten ebenso suspekt wie allzu liberale Kräfte. Sie ist ideologiefrei, sie will nur Macht.“
Im größten Land der Erde sitzen heute mit gut 600.000 Menschen so viele hinter Gittern wie fast nirgendwo
Latypow spricht solche Sätze gekonnt mit einer Härte in der Stimme aus, die es schwer macht zu widersprechen. „Der Staat leugnet heute die Repressionen der damaligen Zeit nicht. Aber er stellt sie dar, als wären sie wie eine Pestepidemie, völlig unpolitisch über dieses Land gekommen.“ Um das alte Team um Schmyrow und Kursina wieder einzusetzen, haben Latypow und andere eine Petition gestartet, fast 100.000 Unterschriften gesammelt. Aber Latypow winkt ab: „Da wird nichts passieren.“ In der Tat wurde die Petition in der Zwischenzeit geschlossen.
Während Jugendliche das Einraumbüro von Memorial betreten, um an einer Schülerzeitung zu arbeiten, kommt Latypow auf etwas zu sprechen, das ihm noch mehr am Herzen liegt als Vergangenheitsbewältigung. „Mich interessiert die Gegenwart: In was für einem Land leben wir heute?“, fragt er rhetorisch, um selbst die Antwort zu geben: „In einem, dessen Strafvollzug Konstanten von der Zarenzeit über den Kommunismus bis zur Gegenwart aufweist: Erniedrigung und Isolation. Deshalb haben wir so eine hohe Quote an Wiederholungstätern.“
Tatsächlich sitzen im größten Land der Erde mit gut 600.000 Menschen so viele hinter Gittern wie fast nirgendwo; „Übertroffen“ wird Russland in dieser traurigen Statistik nur von den USA, China und Brasilien. Betrachtet man die Anzahl der Gefangenen pro 100.000 Einwohner, landet Russland mit 425 immer noch auf Platz 14. Fast die Hälfte der Gefangenen sind Wiederholungstäter.
Vermitteln zwischen Staat und Aktivisten
Das Schicksal der Gedenkstätte berührt in Perm viele Menschen. Einer der profiliertesten Experten für die Auseinandersetzung um Perm 36 ist Wladimir Sokolow, ein freier Journalist, der in der Stadt bestens vernetzt ist. Er ist auch so etwas wie ein Mittler zwischen den Welten. Sokolow versucht, sowohl zur alten Garde der Aktivisten wie auch zum neuen Team einen Draht zu behalten. Er trägt einen Fünftagebart, aber weder Mütze noch Schal, wenn er an diesem zugigen Tag an der renovierten Promenade des Flusses Kama entlangschlendert, der Perm in zwei Hälften teilt. „In seiner alten Form war das Museum den Herrschenden zu unbequem, es gab ihnen dort zu viel zivilgesellschaftliche Bewegung“, erklärt er. „Das ist sehr schade.“ Nun gehe es darum, „die Gedenkstätte als solche überhaupt zu erhalten“.
Sokolow findet, es sei „gar nicht in Ordnung“, wie mit Schmyrow und Kursina umgegangen wurde. „Es wurde versucht, sie als korrupt zu diskreditieren. Das waren sie meiner Meinung nach nie. Aber sie haben chaotische Verhältnisse hinterlassen, was alle Aufarbeitung und Versöhnung schwer macht.“ Wie Memorial-Chef Latypow glaubt Sokolow, dass die erste Zeit nach der Übernahme schlimm gewesen sei, sich die Dinge seither aber etwas gebessert hätten.
In der Gedenkstätte selbst gibt es seit der staatlichen Übernahme eine Baracke, in der auch eine Art der Verbesserung dargestellt wird, wenn auch eine merkwürdige. Es ist eine Baracke, die fast alle bestürzt bis fassungslos erwähnen, die mit der Gedenkstätte zu tun hatten oder haben, wenn sie von dieser reden. Dort wird die „Evolution der Schlafstätten“ abgebildet. Auf ein grob und schief geschnitztes Doppelstockbett aus den Weltkriegsjahren folgt ein etwas stabiler wirkendes aus einem späteren Jahrzehnt, dann ein fast gerades – bis hin zu einem Einzelbett, das so beinahe in einer Jugendherberge stehen könnte. Die Aussage ist klar: Es ist alles humaner geworden seit Stalin. Wie seltsam die frischen Decken auf diesen Betten an einem Ort wirken, an dem auch Menschen starben, die mal einen Witz über Parteifunktionäre gemacht haben und dann denunziert wurden, ist schwer zu beschreiben. Ebenso wie der Eindruck, dass Perm 36 trotzdem weiter menschenverachtende Trostlosigkeit ausstrahlt, die diesem Ort in den Knochen steckt.
Titelbild: Mikhail Galustov/The New York Times/laif