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Hilfe! Lebensentscheidung

In Deutschland haben alle Bürgerinnen und Bürger Anspruch auf Suizidassistenz. Aber was heißt das eigentlich? Ein FAQ

Steinmetz, Grabsteine

Dem Bundestag lagen zwei Entwürfe zur neuen Regelung von Hilfe bei Selbsttötung vor. Beide hat er am 6. Juli 2023 abgelehnt. 

Wie ist die Sterbehilfe bislang in Deutschland geregelt?

Sterbehilfe ist ein Oberbegriff für ganz Unterschiedliches – manches davon ist erlaubt, anderes bei Strafe verboten. Laut einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020 hat jeder Mensch in Deutschland das Recht auf Hilfe beim Suizid, egal ob jung oder alt, gesund oder krank oder einfach nur lebenssatt. Diese Beihilfe zum Suizid bedeutet zum Beispiel, dass ein tödliches Mittel beschafft oder bereitgestellt wird, der Patient das Medikament aber selbst einnimmt. Einzige Bedingung: Sterbewillige müssen frei verantwortlich entscheiden. Die Regierung steht nun vor der Frage, wie das sichergestellt werden kann.

Das 2020er-Urteil der Verfassungsrichter war historisch: Alle Bürgerinnen und Bürger in Deutschland haben einen verfassungsrechtlich geschützten Anspruch auf Suizidassistenz. Das Gericht erklärte zudem ein Gesetz für nichtig, das die geschäftsmäßige Suizidassistenz verboten hatte. Manche feiern diese Entscheidung als Sieg der Selbstbestimmung. Andere fürchten, dass Selbsttötung nun zu einer normalen Form der Lebensbeendigung werden könnte.

Welche Art der Sterbehilfe ist erlaubt?

Erlaubt und sogar ärztlich geboten ist es, schwerstkranken Menschen beim Sterben zu helfen, wenn Heilung nicht mehr möglich ist. Es geht dann darum, Symptome zu lindern, etwa Schmerzen, Übelkeit oder Luftnot. Die ärztliche Disziplin, die darauf spezialisiert ist, heißt Palliativmedizin. Sind Symptome sehr ausgeprägt, dürfen selbst stärkste Medikamente gegeben werden, auch wenn sie als unbeabsichtigte Nebenwirkung den Tod schneller herbeiführen. Das ist aber die Ausnahme.

Muss man alles tun, damit ein Mensch am Leben bleibt?

Maßnahmen, die den Sterbeprozess nur künstlich verlängern, dürfen unterlassen werden. Früher sprach man in solchen Fällen von passiver Sterbehilfe. Heute sagen viele: das Sterben zulassen. Dies geschieht zum Beispiel, indem man Behandlungen, für die es keinen medizinischen Grund mehr gibt, gar nicht erst einleitet oder aber beendet. Ärztinnen und Ärzte müssen dabei gemäß dem Patientenwillen handeln. Wenn ein Mensch sich nicht mehr äußern kann, setzen sie ihn gemäß seiner Patientenverfügung und Gesprächen mit Vertrauenspersonen um. Liegt keine Patientenverfügung vor, versuchen sie, den mutmaßlichen Willen zu ermitteln, indem sie zum Beispiel Angehörige befragen.

Was bedeutet „geschäftsmäßige“ Suizidhilfe, die seit 2020 ja nicht mehr verboten ist?

Geschäftsmäßig meint nicht etwa, dass mit der Suizidassistenz Gewinn erzielt werden soll, sondern dass die Handlung wiederholt ausgeführt wird. Diese Art der Hilfe zur Selbsttötung war von 2015 bis 2020 durch den Paragrafen 217 des Strafgesetzbuchs verboten. Der Bundestag hatte das Gesetz nach langem Ringen beschlossen, um die Tätigkeit von Sterbehilfevereinen zu unterbinden oder auch die von Ärzten, die immer wieder Suizidassistenz leisteten. Angehörige und nahestehende Personen, die nicht geschäftsmäßig handelten, blieben auch vor Februar 2020 ausdrücklich straffrei.

Warum hat das Bundesverfassungsgericht den Paragrafen 217 des Strafgesetzbuchs für nichtig erklärt?

Das Gericht befand, dass dieses Gesetz die Hilfe zur Selbsttötung zu stark einschränkte. Zum Beispiel fürchteten manche Ärzte, sie könnten, falls sie einem Patienten zum Suizid verhelfen würden, angeklagt werden. Allerdings ist kein einziges Mal einer von ihnen deswegen verurteilt worden.

Ist es also erlaubt, einen anderen Menschen zu töten, wenn er es wünscht?

Nein. Der wichtigste Unterschied zum assistierten Suizid: Der sterbewillige Mensch hält das zum Tode führende Geschehen dann nicht bis zuletzt in den eigenen Händen, sondern wird getötet. Das ist in Deutschland nach dem Paragrafen 216 im Strafgesetzbuch verboten. Wer gegen dieses Gesetz verstößt, kann zu einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren verurteilt werden. Nur in wenigen Ländern weltweit bleibt die Tötung auf Verlangen unter bestimmten Voraussetzungen straffrei, darunter Kanada, Belgien, die Niederlande, Spanien und Luxemburg.

Welche Sterbehilfeorganisationen sind in Deutschland aktiv?

Drei Organisationen leisten hierzulande Suizidassistenz oder vermitteln sie: der Verein Sterbehilfe mit Hauptsitz in Zürich, der Verein Dignitas Deutschland in Hannover und die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) in Berlin. Insgesamt haben die drei Vereine seit 2020 mehreren Hundert Menschen zur Selbsttötung verholfen.

Muss man für Suizidassistenz bezahlen?

Wer die Dienste der Vereine in Anspruch nehmen möchte, muss dort Mitglied werden. Für die Suizidassistenz fallen weitere Kosten an. Der Verein Sterbehilfe beispielsweise berechnet 500 Euro für die Lebensmitgliedschaft. Je nach Dauer der Vereinszugehörigkeit muss ein Mitglied für die Suizidassistenz zusätzlich zwischen 2.000 und 7.000 Euro zahlen.

Am Beschluss des Bundesverfassungsgerichts gab es auch Kritik: Könnte die Zahl der Suizide dadurch sogar zunehmen?

Mehr als 9.000 Menschen nehmen sich in Deutschland jedes Jahr das Leben. Mit dem wachsenden Angebot an Suizidassistenz wegen des Urteils von 2020 könnte diese Zahl steigen. Genau kann man das noch nicht sagen, verlässliche Zahlen des Statistischen Bundesamts aus 2021 oder 2022 liegen noch nicht vor. In der Schweiz, wo der assistierte Suizid seit vielen Jahren straffrei möglich ist, hat sich die Zahl dieser Fälle innerhalb von zehn Jahren vervierfacht. Dort sind Männer bei einsamen Suiziden (so nennt man Suizide ohne „Assistenz“) in der Mehrheit, vom Angebot der Hilfe zur Selbsttötung machen vornehmlich Frauen Gebrauch.

Kann die Aussicht auf Hilfe bei der Selbsttötung einem Suizid vorbeugen?

Die Erkenntnisse der Suizidforschung sprechen eher für das Gegenteil. Zahlreiche Einzelstudien und zusammenfassende Analysen belegen: Eines der wirksamsten Mittel, um Suizid vorzubeugen, ist, den Zugang zu Suizidmethoden zu erschweren. Das geschieht zum Beispiel, indem man Haushaltsgas entgiftet, potenziell tödliche Medikamente nur in kleinen Packungen abgibt oder den Zugang zu Suizidhotspots wie Brücken versperrt. Mit dem erleichterten Zugang zur Suizidassistenz steht also eher eine neue Methode zur Verfügung.

Wie kann man verhindern, dass Suizid eine „normale“ Form der Lebensbeendigung wird?

Experten fordern – vor einer Regelung der Suizidassistenz – ein Gesetz zur Suizidprävention. Bislang gibt es in Deutschland nicht einmal eine einheitliche Telefon-Hotline für Menschen mit Selbsttötungsgedanken, die von geschultem Fachpersonal betreut wird. Es braucht leicht zugängliche Beratungs- und Therapieangebote für Menschen mit Suizidgedanken, mehr Teilhabe für Menschen mit Pflege- oder Assistenzbedarf, eine bessere Versorgung für Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen, den Ausbau der Palliativmedizin und Weiterbildungsangebote zu Suizidalität für Menschen in sozialen und Gesundheitsberufen.

Der Beschluss zum Suizid soll auf einem freien Willen beruhen. Wie lässt sich das sicherstellen?

Eine schwierige Frage. Wie frei entscheidet sich zum Beispiel ein Kranker für den Suizid, dessen Erspartes von der Pflege aufgebraucht wird? Oder ein alter Mensch, der seiner Familie nicht länger zur Last fallen will? Was ist mit Patienten, die an einer psychischen Störung leiden? Man weiß aus sogenannten psychologischen Autopsiestudien, in denen Forscher rückblickend aus Arztbriefen, Polizeiakten, Aussagen von Angehörigen und Freunden sowie Abschiedsbriefen die Motive eines Suizidopfers erkunden: Bis zu 90 Prozent aller Selbsttötungen geschehen vor dem Hintergrund einer psychiatrischen Erkrankung.

Vor welcher Herausforderung steht der Gesetzgeber nun?

Auch das Bundesverfassungsgericht möchte nicht, dass sich Menschen aus sozialer Not, infolge einer psychischen Störung oder aufgrund von gesellschaftlichem Druck für den Suizid entscheiden. Deshalb stellt es dem Gesetzgeber frei, ein sogenanntes Schutzkonzept zu erstellen. Denkbar sind zum Beispiel Aufklärungspflichten und Wartefristen oder sogar ein Verbot für besonders riskante Formen der Suizidassistenz. Allerdings ist der Spielraum für ein neues Gesetz eng – die Suizidassistenz darf nicht unmöglich werden. Und Sterbehilfeorganisationen haben bereits angekündigt, gegen zu strenge Regeln wieder vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen

Wenn du suizidale Gedanken hast oder glaubst, sie bei anderen festzustellen: Hol dir Hilfe. Zum Beispiel anonym, kostenlos (und egal zu welcher Uhrzeit) bei der Telefonseelsorge: 0800/1110111 oder 0800/1110222 oder online.

Titelbild: Jan-Dirk van der Burg

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