Wenn Kemal Kocak mit leichtem hessischem Dialekt „früher“ sagt, meint er nicht die Zeit vor der Corona-Krise. „Früher“ – das war vor dem Abend des 19. Februar, als sein Kiosk zum Schauplatz eines Massakers wurde.
Ein Rechtsterrorist erschoss in seinem Kiosk vier Menschen. In der benachbarten „Arena Bar“, auf offener Straße und in einer Shishabar tötete er fünf weitere Menschen. Kemal Kocak, 45, kannte jede und jeden von ihnen. Sie gehörten zu seinem engen Freundeskreis. Mit der Familie von Gökhan, der an jenem Abend getötet wurde, sind die Kocaks verschwägert. „Wir haben unsere Liebsten verloren“, sagt er. Dass „sein“ Hanau zum Schauplatz rechten Terrors werden könnte, daran hätte Kocak nicht im schlimmsten Albtraum gedacht. „Man hörte über den NSU oder Christchurch. Doch dann passiert es plötzlich vor deinen Augen, und du bist betroffen.“
Seit dem Anschlag sind zwei Monate vergangen und das öffentliche Interesse an der Tat ist abgeflaut, abgelöst von immer neuen Corona-Zahlen. Kocak kämpft um seine Existenz. Sein Laden ist seit dem Anschlag geschlossen, das Blut hat Flecken hinterlassen. Er wird ihn wohl nie wieder öffnen können, zu groß sei der Schmerz. „Unser Kiosk war voller Liebe. Wir schauten aufeinander, wie eine Familie. Wir achteten darauf, dass niemand auf die schiefe Bahn gerät“, sagt sein Neffe Hassan. Die Kocaks betreiben einen zweiten Kiosk, aber der allein reiche kaum, um über die Runden zu kommen.
Die Hinterbliebenen und Freunde der Opfer leben nach dem Anschlag in einem doppelten Ausnahmezustand. Solche Erlebnisse zu verarbeiten ist schon in normalen Zeiten schwer – die Pandemie macht es nun nahezu unmöglich. Der Umgang mit Trauer ist subjektiv, doch viele Menschen brauchen die körperliche Nähe zu anderen. Gläubige Muslime folgen meist einer 40-tägigen Trauerzeit. So auch viele Familien der Opfer. In diesem Zeitraum besucht man einander, lässt den anderen nicht allein, bringt Essen vorbei und versucht, den Schmerz gemeinsam zu verarbeiten. All das fällt mit Corona weg. Kemal Kocak versucht trotzdem, mit den Familien zu trauern, besucht sie, trinkt Tee. „Wir telefonieren jeden Tag und sind füreinander da“, sagt er.
„Was hier in Hanau los gewesen wäre, wenn ein Muslim oder Migrant für solch ein Massaker verantwortlich gewesen wäre!“
Kais Feroz* weiß, wovon Kocak spricht. „Trauern ist zurzeit schwierig“, sagt Feroz, der in der Nähe von Hanau eine Versicherungsfirma hat. Etris, einer seiner Azubis, wurde bei dem Anschlag schwer verletzt und lag einige Tage im Koma. Etris’ Bruder, Said Nesar, wurde getötet. Feroz begleitete die Familie zum Empfang des Bürgermeisters wenige Tage nach dem Anschlag.
Sowohl sie als auch Feroz haben afghanische Wurzeln. Beide Familien verließen das Land vor Jahren aufgrund von Krieg und Vertreibung. Mit einem Terroranschlag in Hanau hatte niemand von ihnen gerechnet. Sie hätten stets die Nachrichten verfolgt, nachdem sich ein Anschlag in Afghanistan ereignet hat, sagt Feroz. „Am Ende passiert es vor deiner Haustür. In Hanau. Das haben wir immer noch nicht verarbeitet.“
Nach dem Ausbruch der Corona-Krise mussten in Hanau sämtliche Termine, die den Hinterbliebenen helfen sollten, abgesagt werden. Der Bürgermeister wollte die Angehörigen treffen, um gemeinsam einen Gedenkort zu planen: wegen Corona abgesagt. Der Jugendtreff, in dem viele Überlebende versuchten, gemeinsam den Anschlag zu verarbeiten: geschlossen. Gemeinsames Trauern, finanzielle Unterstützung, eine Gedenkstätte. All diese Dinge sind wegen der Pandemie vertagt.
Der nächste Anschlag
„Wir müssen Räume schaffen, damit jene, die trauern oder Unterstützung benötigen, anderen Menschen begegnen können. Auch in Corona-Zeiten“, sagt Newroz Duman, 30, Aktivistin und Trauma-Pädagogin. Sie klingt alles andere als pessimistisch. Gemeinsam mit anderen Hanauern hat sie die „Initiative 19. Februar“ gegründet und möchte in einem Ladenlokal einen Ort schaffen, an dem man sich treffen, austauschen und gemeinsam trauern kann. „In den ersten zwei Wochen hat die Politik Präsenz gezeigt. Das musste sie auch, nach solch einem Anschlag. Mittlerweile findet allerdings eine Verdrängung statt, und das darf nicht passieren“, sagt sie.
Auch Kioskbesitzer Kocak wirft den Medien und Politikern Desinteresse vor. „Man stelle sich mal vor, was hier los gewesen wäre, wenn ein Muslim oder Migrant für solch ein Massaker verantwortlich gewesen wäre“, sagt er. „Ein weißer Rechtsextremist tötet Migranten: Das scheint für viele Menschen in diesem Land nicht so schlimm zu sein.“
In den vergangenen Wochen erhielten er und andere Menschen aus Hanau anonyme Drohungen. Am Osterwochenende warfen unbekannte Täter mit Pflastersteinen die Scheibe der „Arena Bar & Café“ ein, dem Anschlagsort neben seinem Kiosk. Im niedersächsischen Celle wurde in der vergangenen Woche Arkan Hussein erstochen, ein 15-jähriger Geflüchteter aus der Minderheit der Jesiden. Die Polizei schließt einen rechtsextremen Hintergrund nicht aus. Kemal Kocak überrascht all das kaum. „Es wird schlimmer. Ich habe Angst um das Leben meiner Kinder“, sagt er. Corona ist im Moment seine kleinste Sorge.
* Emran Feroz ist freier Journalist und Autor mit afghanischen Wurzeln. Zu Hanau hat er eine besondere Beziehung: Seit mehr als dreißig Jahren leben nahe Verwandte wie sein Cousin Kais in der hessischen Stadt.