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Halb Problem, Halbinsel

Vor Kopenhagen wird eine neue Halbinsel geschaffen. Sie soll die Küste schützen und Wohnraum bereitstellen, doch es gibt auch Kritik. Welche Folgen hat das Projekt für die Ostsee?

  • 9 Min.
Nordhavn

An einem ruhigen Sommermorgen rollen sanfte Wellen auf das Nordufer der Halbinsel Refshaleøen vor Kopenhagen. Von hier reicht der Blick übers Wasser. Häuser reflektieren am gegenüberliegenden Ufer das Morgenlicht, dahinter erheben sich Berge aus Erde. In 50 Jahren wird der Blick von hier ein anderer sein. Statt auf die Ostsee wird man auf ein neues Stück Land schauen: Lynetteholm heißt die künstliche Halbinsel, die auf knapp drei Quadratkilometern vor der dänischen Hauptstadt entstehen soll.

Die finanzielle Unsicherheit ist nicht die einzige Sorge, die Kopenhagener*innen in Bezug auf Lynetteholm haben. Aus einer Umfrage der Organisation Byen for Borgerne (Die Stadt für Bürger), die sich gegen Lynetteholm einsetzt, geht hervor: 55 Prozent der Einwohner*innen der Hauptstadtregion bezweifeln, „dass die Entscheidung für Lynetteholm auf der Grundlage ausreichend gründlicher Analysen der Folgen für Klima und Umwelt getroffen wurde“. Richtig laut wurde die Kritik erstmals 2022, als nach den ersten Bauarbeiten giftiger Schaum in den anliegenden Hafen trieb und große Mengen Schlamm in der nahe gelegenen Køge-Bucht abgeladen wurden.

Die wohl lauteste Kritik kommt von der Organisation Klimabevægelsen. Der Dachverband für Klimavereine in Dänemark hat eine einstweilige Verfügung gegen Lynetteholm beantragt, um den Bau zu stoppen, bis die Bedenken geklärt sind.

Als das Projekt 2018 im dänischen Parlament vorgestellt wird, glänzt es als Zukunftsutopie. Der neue Stadtteil soll mit Platz für 35.000 Einwohner*innen nicht nur dem drohenden Wohnraummangel entgegenwirken, sondern auch der Klimakrise trotzen: Als Schutz gegen Sturmfluten soll sich Lynetteholm vor Kopenhagen im Meer auftürmen – so bewirbt die Stadt das Projekt. Ein Teil der Küste ist als natürliche Landschaft geplant, die die Wellenenergie abfangen und Erholungsgebiet sein soll. Denn durch den klimawandelbedingten Meeresspiegelanstieg werden die Sturmfluten in den kommenden Jahrzehnten häufiger und heftiger.

Nordhavn Erd-Depot

Nordhavn Erd-Depot
Das Nordhavn-Viertel ist geprägt vom Erd-Depot und futuristischen Neubauten

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Andrea Fernande Rendtorff
Andrea Fernande Rendtorff kritisiert das Bauprojekt

Während das Projekt für die einen nach der perfekten Lösung für Kopenhagens Herausforderungen klingt, steht es bei Umweltschützer*innen und in der Bevölkerung in der Kritik. Die Auswirkungen auf das sensible Ökosystem der Ostsee seien nicht gut genug untersucht worden und die Entscheidung für den Bau von Lynetteholm überstürzt und undemokratisch.

Im Juni 2021 beschlossen, sind die Bauarbeiten zwei Jahre später so weit vorangeschritten, dass ein Teil der Halbinsel mit Bodenmaterial gefüllt wird – denn davon hat Kopenhagen durch die vielen Baustellen in der Stadt mehr als genug. Seit Jahren wird dieses Material in einem mittlerweile vollen Erddepot in Nordhavn gelagert, das vom Refshaleøen-Ufer am Horizont zu erkennen ist. Riesige Hügel aus Erde, Schutt und Sand formen eine eigene Landschaft, die über die Stadt hinauswächst und die zur Finanzierung des Großbauprojektes beiträgt. Bauunternehmen bezahlen, um Material in Lynetteholm abzuladen.

Erst 2050 soll Lynetteholm bebaut werden

Von hier oben präsentiert sich Kopenhagen von seiner futuristischsten Seite – die Neubauten von Nordhavn lassen vermuten, wie es 2070 auch einmal auf Lynetteholm aussehen könnte. In circa 30 Jahren, wenn die Halbinsel so weit fertiggestellt ist, dass darauf gebaut werden kann, soll auch durch den Verkauf von Baugrund Einnahmen generiert werden. So soll sich Lynetteholm finanzieren – viele Kopenhagener*innen aber fürchten, dass der Finanzplan nicht gut kalkuliert ist und das Projekt viel teurer wird als geplant.

„Die Insel wird, zusammen mit der U-Bahn, den 20.000 Gebäuden und dem Hafentunnel eine Menge schädlicher CO₂-Emissionen verursachen“, ärgert sich Andrea Fernande Rendtorff von Klimabevægelsen. Außerdem verstößt Dänemark ihrer Meinung nach mit dem Bau von Lynetteholm gegen zwei internationale Konventionen: die EU-Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung (die EU-Kommission konnte jedoch keinen Verstoß gegen die Richtlinie feststellen) und die Espoo-Konvention. Der Konvention entsprechend erfordert wirksamer Umweltschutz, dass bei Projekten mit potenziell grenzüberschreitenden Auswirkungen auf die Umwelt alle Nachbarländer in eine Umweltverträglichkeitsprüfung einbezogen werden müssen.

Lynetteholm
Umweltverbände sagen, die Auswirkungen auf das sensible Ökosystem der Ostsee seien nicht gut genug untersucht worden

Sollte sich Lynetteholm auf das Ökosystem der Ostsee auswirken, wie Expert*innen kritisieren, müssen Konsultationen mit allen Anrainerstaaten stattfinden. Dies sei bei der Entscheidung für Lynetteholm verschlampt worden. Lediglich Schweden sei in die Verhandlungen involviert und äußerte sich von Anfang an kritisch – die Kritik aber wollte niemand hören.

Als das dänische Parlament am 4. Juni 2021 für ein neues Gesetz zum Bau von Lynetteholm abstimmt, liegt dem dänischen Umweltministerium ein Brief des schwedischen Umweltministers vor, in dem er fordert: Das Parlament solle keine Entscheidungen hinsichtlich Lynetteholm treffen, bevor die Umweltauswirkungen ausreichend untersucht worden und die Espoo-Konsultationen zwischen den beiden Ländern abgeschlossen seien. Den Brief aber bekommt das dänische Parlament erst nach zehn Monaten zu Gesicht, als die Abstimmung für Lynetteholm längst stattgefunden hat. „Ein Fehler“, wie es im Nachhinein heißt, der jedoch keinerlei Konsequenzen mit sich brachte.

Aus Schweden kommt viel Kritik

Bis heute kritisieren schwedische Behörden das Projekt. Zuletzt schrieb das Umweltschutzamt in einem Brief: „Die schwedischen Behörden haben nach wie vor Bedenken, dass das Projekt Auswirkungen auf die Wasserströmungen […] haben könnte.“ Das wiederum könnte fatale Folgen für die Ostsee mit sich bringen.

Hier gehen die Meinungen aber auseinander – während Umweltschutzverbände die Umweltverträglichkeitsprüfung von Lynetteholm kritisieren, schreibt das für das Projekt zuständige dänische Verkehrsministerium auf fluter-Anfrage: „[…] die Halbinsel Lynetteholm [habe] nach Einschätzung der Behörden keine oder nur unbedeutende Auswirkungen auf die Wasserströmung in der Ostsee […]. Die Auswirkungen auf die Wasserströmung wurden mehrfach erörtert, und es wurde eine Prüfung durch Dritte durchgeführt, die die ursprünglichen Schlussfolgerungen bestätigte.“

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Jacob Steen Moller
Jacob Steen Moller konstruierte ein Brücke so, dass das Ökosystem der Ostsee unbeschadet blieb

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Ostsee
Die Ostsee wird durch Zuflüsse aus der Nordsee mit sauerstoffreichem Salzwasser versorgt

Als Binnenmeer ist die Ostsee über drei schmale Meerengen mit der Nordsee verbunden: dem Kleinen und dem Großen Belt und dem Öresund. Durch diese Meerengen wird sie wie über eine Nabelschnur mit sauerstoffreichem Salzwasser versorgt. Werden Teile des Zuflusses blockiert, kann sich das auf den Salzgehalt und damit auf das komplette Ökosystem auswirken. Um bis zu 0,25 Prozent werde die Halbinsel den Gesamtwasserdurchfluss sowie den Salztransport durch den Öresund verringern, wie es in einem Bericht zur Prüfung der Umweltverträglichkeit heißt. Denn sie ragt in den zwischen Dänemark und Schweden liegenden Öresund hinein und blockiert hier eine wichtige unterseeische Rinne, durch welche Salzwasser in die Ostsee strömt.

0,25 Prozent – das sei zwar ein niedriger Wert, „aber er ist nicht niedrig genug“, sagt Jacob Steen Møller. Als Wasserbauingenieur war er an der Planung der Öresundbrücke beteiligt, die Kopenhagen und Malmö verbindet. Ein Jahrhundertbauprojekt, für das Ingenieur*innen jahrelang nach einem Weg suchten, die Brücke so zu bauen, dass sie keinen Wasserzufluss in die Ostsee blockiert. Das Resultat: die sogenannte Null-Lösung, bei der durch das Ausgraben von breiten Rinnen die Bereiche kompensiert werden, die die Brücke blockiert.

Die Ostsee, ein fragiles Binnenmeer

„Warum hat Dänemark Milliarden Kronen für die Null-Lösung der Öresundbrücke ausgegeben und dann alles vergessen und gesagt, dass Lynetteholm nicht die gleichen Anforderungen erfüllen muss?“, fragt Møller. Zwar heißt es in dem Bericht zur Prüfung der Umweltverträglichkeit, die Blockierung würde durch den steigenden Meeresspiegel ausgeglichen werden. „Aber auch die Niederschläge und der Abfluss der Flüsse in die Ostsee werden sich aufgrund des Klimawandels verändern und höchstwahrscheinlich zunehmen“, sagt Møller. „Dies wird den Salzgehalt der Ostsee verringern.“

Schon jetzt ist die Ostsee in einem fragilen Zustand. Die vielen Nährstoffe, die aus der Landwirtschaft über Flüsse in sie geraten, setzen sie unter Stress. Etwa 25 Prozent sind bereits tote Zonen – also Bereiche, in denen der Sauerstoffgehalt so gering ist, dass es für Tiere und Pflanzen unmöglich ist, hier zu überleben.

Trotz der Kritik laufen die Bauarbeiten weiter. Ein breiter Steinwall ragt vor Refshaleøen ins Meer und kennzeichnet bereits den ersten Teil der Halbinsel. Neben Baucontainern häufen sich Sand, Erde und Pflastersteine. Lkws und Schiffe laden täglich tonnenweise Erde in das Becken ab.

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