Herr Sauga, in Ihrem Buch beschreiben Sie, dass Solidarität in Deutschland nicht mehr gut funktioniert.

Absolut. Das deutsche Sozialsystem ist extrem unsolidarisch! Die Grundbedingung für Solidarität, nämlich ein Gleichgewicht von Rechten und Pflichten für alle Menschen, ist absolut nicht gewahrt.

Inwiefern?

Was ich kritisiere, ist, wie dieses System finan-ziert wird – nämlich nur über die Arbeitnehmer, die Angestellten und Arbeiter. Die Beiträge für die Sozialversicherungen, also die Kranken-, Pflege-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung, werden den Arbeitnehmern jeden Monat automatisch vom Lohn abgezo-gen. Das nennt sich dann Lohnnebenkosten. Jetzt gibt es in Deutschland aber nicht nur Arbeitnehmer. Es gibt noch andere, privilegierte Gruppen, und die müssen diese Beiträ-ge nicht zahlen. Denen wird nichts abgezogen, sondern sie zahlen freiwillig in private Versorgungssysteme ein, die nur ihnen offen- stehen und die bessere Leistungen anbieten. Zu dieser Gruppe gehören die Freiberufler und die Selbstständigen, auch die Beamten und ironischerweise auch all die Arbeitnehmer, die gut bis sehr gut verdienen. Denn wer über einen bestimmten Lohn kommt, darf sich – zumindest teilweise – auch aus der gesetzlichen Vorsorge verabschieden und privat vorsorgen. Im Klartext heißt das: Das Sozialsystem, über das auch die Renten und das Arbeitslosengeld finanziert werden, wird von schlecht bis mittel verdienenden Arbeitnehmern finanziert, während sich alle anderen aus dem System ausklinken können.

Aber die Arbeitgeber übernehmen einen Teil der Sozialversicherungskosten für ihre Angestellten. Was ist mit dem Arbeitgeberanteil? 

Der ist nur Augenwischerei. Der Arbeitgeber rechnet alle Ausgaben, die er für eine Stelle hat, zusammen und daraus errechnen sich für ihn die tatsächlichen Kosten. Wohin das Geld geht, ist ihm egal. In der Rechnung des Arbeitgebers ist auch sein Anteil an den Sozialversicherungen einfach nur Teil des Lohns seines Angestellten. Er überlegt sich: Ist mir diese Arbeitsstelle diese Summe wert? Und wenn nicht, wird die Stelle gestrichen.

Das hört sich alles nach einer Zweiklassengesellschaft an.

Ist es auch. Die Mittelschicht zeigt sich mit der Unterschicht solidarisch, während sich die Oberschicht nur selbst finanziert, was natürlich viel einfacher ist. Die Ausgaben für Arbeitslose, chronisch Kranke und Pflegebedürftige und die Renten – das alles wird fi-nan-ziert über die kleinen Angestellten, die Busfahrer, die Menschen am Fließband.

Aber das Sozialsystem hat doch lange gut funktioniert und hatte auch lange Vorbildcharakter. Was ist passiert?

Es war von Anfang an falsch, das System so zu konstruieren, dass die Beiträge über Abzüge vom Arbeitslohn finanziert werden. Aber solange es genug Nachwuchs gab und genug Arbeitsplätze, hat es funktioniert. Als die geburtenstarken Jahrgänge der Fünfziger- und Sechzigerjahre auf den Arbeitsmarkt strömten, gab es genug Arbeitnehmer, die für das nötige Beitragsaufkommen sorgten. Nur ist die Bevölkerungsentwicklung inzwischen eine ganz andere. Es gibt weniger Nachwuchs, also auch weniger Arbeitnehmer. Außerdem sind durch die relativ schlechte wirtschaftliche Lage und auch durch die Globalisierung in den letzten Jahren Stellen abgebaut oder ausgelagert worden. Weniger Arbeit-neh-mer in Festanstellungen – das heißt auch, dass das Sozialsystem von immer weniger Menschen finanziert wird. Und die Anfor-derun-gen die-ses Systems werden sicher nicht weniger, schon allein durch die vielen Arbeitslosen und Rentner. Noch geht das relativ gut, die Menschen, die in den Fünfziger- und Sechzigerjahren geboren wurden, arbei-ten noch – aber in zwanzig Jahren, wenn sie in Rente sind, sieht das ganz anders aus.

Was wäre Ihre solidarischere Alternative zum jetzigen Sozialsystem?

Man muss die Lasten für die Geringverdiener vermindern. Und die heute besser gestellten und privilegierten Bevölkerungsteile müssen in die Pflicht genommen werden. Sie müssen sich am Solidaritätsprinzip beteiligen. Wir brauchen eine Art Bürgerversicherung bzw. Erwerbstätigenversicherung für die Rente, in die alle einzahlen. Dasselbe gilt für die Krankenversicherung. Die Trennung zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung muss aufgehoben werden. Dasselbe gilt für die Pflegeversicherung. Die Lohnnebenkosten müssen gesenkt werden und unsere Sicherungssysteme dafür viel mehr über Steuern finanziert werden, die von allen bezahlt werden, nicht nur von den Arbeitnehmern. Die skandinavischen Länder sind da ein gutes Vorbild. Grob gesagt: Alle zahlen in denselben Topf ein und alle bekommen auch aus demselben Topf wieder heraus.

Das hört sich ziemlich einfach und logisch an. Warum wird das nicht schon längst so gemacht?

Die Wahrheit ist: Man macht es nicht, weil man damit ganz bestimmten Gruppen erhebliche Einbußen zumuten würde. Das sind die privilegierten Gruppen, die natürlich auch großen Einfluss auf die Politik haben. Und die Politiker scheuen sich davor, sie zu verprellen. Außerdem lassen sich Steuererhö-hun-gen immer schlecht verkaufen, auch wenn man dafür die Lohnnebenkosten senkt.

Politiker reden oft über Solidarität: Solidarität zwischen den Generationen, den Starken und den Schwachen oder Frauen und Männern. Und dann treffen sie Entscheidungen, die der Solidarität offenbar zuwiderlaufen. Warum?

Die Politiker schmücken sich wahnsinnig gern mit dem Begriff der Solidarität, er ist positiv besetzt, da widerspricht erst mal niemand. Wenn es aber darum geht, wirklich So-lidarität durchzusetzen, heißt das auch, dass man die Bessergestellten zur Solidarität mit den Ärmeren und Schwächeren zwingen muss. Und das bedeutet, dass die Unternehmer, die Beamten und die Besserverdiener stärker belastet würden. Das gefällt denen natürlich nicht. Zudem haben sie einen relativ hohen Einfluss auf die Politik. Zum Beispiel sind ein Großteil der Abgeordneten im Deutschen Bundestag selbst Beamte oder Freiberufler.

Können Sie ein Beispiel für solch eine halbherzige Reform nennen?

Die Gesundheitsreform, die die Große Koalition verabschiedet hat, sieht unter anderem sogenannte Mutter-Kind-Kuren vor. Gestresste Mütter dürfen drei Wochen mit ihren Kleinen in einer Kurklinik Ferien machen und sich erholen. Da gab es erst mal Lob von al-len Seiten. Klar, dass man sich mit den Müttern und Kindern solidarisch erklärt. Doch nun wird diese Kur über die gesetzliche Kran-ken-versicherung finanziert. Das ist Unsinn. Die Mütter sind doch nicht krank. Die Kur ist eine zu begrüßende Unterstützung für die, die den Nachwuchs unserer Gesellschaft großziehen. So etwas muss über Steuern finanziert werden. Das wäre aber schon wieder zu unpopulär. Also quetscht man die Kosten ein-fach auf die lange Liste der Dinge, die von der Versicherung gezahlt werden, der einfache Arbeitnehmer – und nur er – kommt dafür auf. Er hat ja keine Wahl, und es wird schon nicht groß auffallen. Ein weiteres Beispiel da-für, dass der Beitragszahler für dumm verkauft wird.

Was würden Sie jungen Menschen raten, die gerade mit der Ausbildung fertig sind und jetzt einen Job suchen?

Wenn ich zynisch wäre, würde ich allen raten, bloß keine Festanstellung anzunehmen, sondern freiberuflich zu arbeiten, sich selbstständig zu machen oder Beamter zu werden. Eines ist auf jeden Fall wichtig: unbedingt privat Vorsorge zu treffen. Die, die jetzt ins Berufsleben eintreten, werden von der gesetzlichen Rente nicht mehr viel rausbekom-men. Und natürlich kann ich nur empfehlen, sich zu engagieren und für einen Umbau des Sozialsystems zu kämpfen.

Wie sieht es denn außerhalb der Sozial-systeme aus, wird das solidarische Klima in Deutschland immer kälter?

So würde ich das nicht sehen. Ich glaube, dass in Deutschland im Bereich der nicht-staatlichen Wohlfahrtssysteme, von Seiten der Kirchen, Vereine und auch von Privatleuten, nach wie vor sehr viel passiert. Zum Glück, denn an vielen Stellen versagen die Sozialsysteme heute schon, werden die wirklich Bedürftigen nicht mehr von den Sozialleistungen erreicht. Ein Staat kann aber auch nicht alles an Hilfe für Bedürftige allein stemmen, das muss man auch sehen. Viele Menschen haben da überzogene Vorstellungen, was ein Staat alles leisten kann. Wir werden immer auch auf nicht-staatliche Solidaritätsagenturen angewiesen sein, auf die Kirchen, Vereine und auch auf die Solidarität des Einzelnen. 

Michael Sauga, 48, ist Redakteur beim Nachrichtenmagazin »Spiegel«. Zuletzt von ihm erschienen: »Wer arbeitet, ist der Dumme. Die Ausbeutung der Mittelschicht« (Piper Verlag).