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Lasst uns in Rudow!

Neukölln besteht nicht nur aus Vierteln, in denen es auf dem Lastenrad zum queeren Poetry-Slam geht. Es gibt auch ruhigere Viertel, in die Familien ziehen, häufig mit Zuwanderungsgeschichte – auf der Suche nach besseren Schulen und weniger Kriminalität

Rudow

Rudow ist eine Scheibe. Wer aus der Innenstadt kommt und am Hermannplatz ein- und hier wieder aussteigt, könnte denken, jemand hätte einmal mit der flachen Hand auf die Kreuzung gehauen, die man „Rudower Spinne“ nennt. Mehrere große Straßen laufen hier zusammen, aber rundherum ist alles flach. Die Häuser sind drei Stockwerke niedriger als noch ein paar U-Bahn-Stationen zuvor.

Hier gibt es keine Craftbeer-Kneipe und kein veganes Tattoostudio. Hier gibt es eine Fahrschule, ein Reisebüro und „Schuhe für die ganze Familie“. Vor dem Supermarkt singt eine wartende Kita-Gruppe „I like the fireplace, when the light is low, dum, di da, di dum, di da“, und im Café Craemer essen Rentnerinnen Blechkuchen mit Sahne.

Jenseits des S-Bahn-Rings ist alles etwas anders

Neukölln ist geteilt, und diese Teilung wird – wie in ganz Berlin – auch durch den öffentlichen Nahverkehr markiert. Innerhalb des S-Bahn-Rings, der die Berliner Innenstadt auf einer Gesamtstrecke von 37 Kilometern umkreist, findet sich alles das, was das Image der Hauptstadt ausmacht: volle Clubs, große Museen, andere Sehenswürdigkeiten und mittendrin ein irres Gewusel aus Menschen. Jenseits des S-Bahn-Rings sind die Aussichten und Ansichten oft andere. Über den Plan einer autofreien Stadt z. B. konnten viele, die weit weg von der Innenstadt leben, nur den Kopf schütteln. Bei der wiederholten Berlin-Wahl im Frühjahr 2023 zeigte sich die Spaltung dann auch bei den Ergebnissen. Während in einigen Neuköllner Wahlkreisen an der Grenze zu Kreuzberg rund 40 Prozent grün wählten und unter 10 Prozent CDU, waren es im Süden Neuköllns an vielen Orten nicht mal 8 Prozent grün und gut 45 Prozent CDU. Wahlsieger in ganz Neukölln wurde die CDU.

In den vergangenen Jahren sind dabei immer mehr Familien mit Zuwanderungsgeschichte nach Rudow, Buckow und Britz gezogen – Viertel, die als vergleichsweise bürgerlich gelten.

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Tramper

Die U-Bahn fährt zwar auch bis nach Rudow, aber die zwei hier trampen lieber, um in die Innenstadt zu kommen

Kazım Erdoğan ist schon 1994 gekommen. Der heute 70-Jährige, der vor 50 Jahren zum Studieren aus Anatolien nach Deutschland zog, ist in Neukölln ziemlich bekannt. Als Vorstand des Vereins Aufbruch Neukölln hat der Psychologe und Soziologe zahlreiche Projekte initiiert. Darunter eine Gesprächsgruppe, in der türkischstämmige Männer lernen, über Gefühle und Konflikte zu sprechen. Über Gewalt, Toleranz oder Sexualität. Kazım Erdoğan, eigentlich schon in Rente, kämpft unermüdlich gegen soziale Ungerechtigkeiten, für mehr Wirgefühl. Dafür bekam er 2012 sogar das Bundesverdienstkreuz.

Warum zieht einer, der auch „Kalif von Neukölln“ genannt wird, nach Rudow?

„Die Migranten und Migrantinnen der ersten und zweiten Generation liebäugelten immer mit der Rückkehr in ihr Herkunftsland. Das betraf auch unsere Familie“, erzählt er bei schwarzem Tee und türkischem Honig im Vereinsraum von Aufbruch Neukölln. „Aber Anfang der 1990er-Jahre haben wir uns entschieden: Berlin ist unsere Heimat.“ Und sei die Entscheidung, hierzubleiben, gefallen, dann bringe das eben mit sich, was viele Menschen umtreibe – den Traum vom Häuschen im Grünen. „Wenn Bekannte uns damals im Rudower Garten besucht und mit uns gegrillt haben – die verliebten sich regelrecht in diese idyllische Atmosphäre“, sagt Kazım Erdoğan. „Damals hatten aber viele nicht die Möglichkeiten, auch wir mussten uns verschulden. Aber wenn man 20, 30 Jahre arbeitet und spart – dann sieht es anders aus.“

Dass es heute anders aussieht, weiß auch die Immobilienmaklerin Melanie Frank. „Von zehn Häusern, die frei werden, verkaufe ich neun an Familien mit Migrationshintergrund“, sagt sie. „Arabisch, türkisch, asiatisch oder indisch: Die Menschen ziehen von Nord-Neukölln nach Rudow und Buckow. Die Kinder der Gastarbeiter sind erwachsen geworden, haben selbst Kinder gekriegt und wünschen sich ein Eigenheim.“

Viel scheint sich dadurch nicht verändert zu haben im Neuköllner Süden, zumindest nicht außerhalb der Gartenzäune. Die Restaurants heißen hier „Kleines Landhaus“ und „Zum alten Krug“. Im Glaskasten vor dem Vereinsgebäude der Rudower Eigenheim- und Grundbesitzer in der Neuköllner Straße hängen ein Aushang der Kleintierzüchtergruppe und ein Hinweis auf die Berliner Imkerfreunde. Vor jedem Zaun liegt der gelbe Müllsack zur Abholung bereit.

Von Vorurteilen und Rechtsextremen

Doch manche Ur-Rudower machen die Entwicklungen nervös, Vorurteile wachsen. Seit acht, neun Jahren würden nur noch türkisch- oder arabischstämmige Familien herziehen, klagt eine Frau, die mit ihrem Hund Gassi geht. Sie ist in Rudow geboren, war nie weg und schimpft nun über steigende Kriminalität und zu laute Gartenpartys. „Sind doch viel mehr Araber hier!“, ruft sie zu einer Bekannten rüber. „Und auch mehr Müll, oder?“ Natürlich gebe es auch nette Leute. Ein Nachbar zum Beispiel, ein türkischer Taxiunternehmer, der sei „deutscher als deutsch“.

Manchmal bleibt es nicht bei Vorurteilen. Rechtsextremismus ist leider auch in Rudow ein bekanntes Problem. Ende der 1990er-Jahre und Anfang der Nullerjahre sind die „Spinne-Bomber“, eine gewaltbereite Gruppe von Nazis, dauerpräsent an der Rudower Spinne. 2008 brennt dann der Gartenpavillon einer türkischen Familie im Rudower Blumenviertel. Heinz Ostermann, der in seinem Buchladen Leporello regelmäßig Lesungen und Diskussionen gegen rechts veranstaltet, wird gleich dreimal zum Ziel von Attacken: 2016 schmeißt man ihm die Scheiben ein, dann brennt sein Auto – und 2018 das zweite. Am selben Abend steht auch das Auto des heutigen Linken-Abgeordneten Ferat Koçak in Flammen – das Feuer erfasst beinahe das Haus seiner Eltern, bei denen er übernachtete.

Die Liste ließe sich lange weiterführen. Bis heute ungeklärt ist der Mord an Burak Bektaş. Im Jahr 2012 ist der damals 22-Jährige mit Freunden in der Rudower Straße unterwegs, als sich ein Mann im Kapuzenpulli der Gruppe nähert und schießt. Wortlos, mehrfach. Zwei Freunde überleben schwer verletzt, Burak stirbt. Seine Angehörigen vermuten ein rassistisches Motiv hinter der Tat.

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Kazım Erdoğan (Foto: Verena Brüning)

Kazım Erdoğan hat Verständnis für Alteingesessene, die sich vor Fremden fürchten

(Foto: Verena Brüning)

Auch Kazım Erdoğan hat in Rudow Anfeindungen erlebt. Die NPD druckte den Namen seiner Familie auf Flugblätter, erzählt er. Vom Multikulti in der Innenstadt schwärmen, aber selbst in den ruhigen Süden ziehen, so der Tenor der Hetze. Erdoğans Töchter hatten große Angst in dieser Zeit. Trotzdem, sagt der 70-Jährige, der heute in Buckow lebt, habe seine Familie 24 sehr schöne Jahre in Rudow verbracht. Auch seine Kinder. Deren Zukunft, sagt er, sei anfangs auch ein Grund für den Umzug in den ruhigeren Teil Neuköllns gewesen: die besseren Schulen und weniger Gewalt.

Wobei Erdoğan glaubt, dass der Ruf der Innenstadt schlechter ist als die Realität. Die Berichterstattung über das großstädtische Neukölln sei geprägt von „defizitorientiertem Denken“. Das Glas sei immer halb leer. Dabei müsse man doch nur mal die Karl-Marx-Straße bis zum Hermannplatz runterlaufen. „Da findet man 150 praktizierende Ärztinnen und Ärzte, die eine türkische Zuwanderungsgeschichte haben. Wer redet davon? Wer sagt: Das sind alles Kinder der Gastarbeiter der ersten und zweiten Generation? Die trennenden Wände werden immer hoch gebaut, aber das Wirgefühl kommt zu kurz“, sagt er und schwärmt von den Sprachen, den Gesichtern, der Schönheit von Sitten und Bräuchen.

An der Spinne, wo früher die Nazis ihr Bier tranken, steht Abir, 33. Mit der Einkaufstasche über der Schulter, einem leuchtend grünen Kopftuch und einem strahlenden Lächeln wartet sie an der Fußgängerampel und sagt: „Ich werde nie hier wegziehen!“ Zwei Ecken weiter auf dem Spielplatz beobachten Deborah, 32, und Desiree, 35, ihre Kinder und loben die fast schon ländliche Ruhe. Ihr Schwiegervater, sagt Deborah, sei Lehrer in Nord-Neukölln. „Der ist eigentlich längst pensioniert – aber er macht weiter. Keine Ahnung, wie der das schafft.“

Und dann sind da noch Ayesha, 36, und Gulzar, 41, die mit ihren zwei kleinen Kindern über den Alt-Rudower Gehsteig laufen. Sie kommen aus Indien, arbeiten im Digital Marketing und Crypto Gaming, haben schon in Rumänien und Polen gelebt. Als sie in Berlin-Mitte lebten, fehlten ihnen die Parks, in Charlottenburg wünschten sie sich dann mehr Ruhe. Und jetzt, in Rudow? „It has all that!“ Sie schwärmen von ihrem schönen Haus, ihren „lovely neighbours“ aus der Türkei und aus dem Libanon. Trotzdem werden sie Deutschland bald in Richtung Australien verlassen. Zu verschnarcht die Bürokratie, zu langsam die Digitalisierung. Aber Rudow sei „so friendly – compared to EVERY other place in Berlin!“ Just in diesem Moment schimpft eine ältere Passantin, man würde ja, „mitten im Weg, den ganzen Gehsteig blockieren“.

Kazım Erdoğan findet selbst für diese Aggressivität sanfte Worte. „Die Ängste der dort lebenden älteren Menschen sind stärker geworden. Das ist verständlich. Wenn man ein Haus hat und rundrum leben fünf Familien mit Zuwanderungsgeschichte, dann denkt man: Ich bin hier nicht mehr zu Hause. Solche Eindrücke entstehen.“ Zudem spreche man zu wenig miteinander. „So entstehen Vorurteile.“

Wer aus Rudow wegzieht, kommt selten wieder

Die Immobilienmaklerin Melanie Frank hat noch eine andere Erklärung für den Zuzug von Familien mit Zuwanderungsgeschichte. Wenn ältere Menschen versterben, sagt sie, gäbe es oft weder Sohn noch Tochter, die das Haus übernehmen möchten. „Leute, die nach der Jugend weggezogen sind, die kommen nicht wieder.“ So weit sei es noch nicht mit der Attraktivität von Rudow. Auch deshalb stiegen die Chancen für Anwärter aus Nord-Neukölln. Für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, die auch öfter mal in der Familie Geld zusammenlegten, um sich ein Eigenheim zu leisten.

Vorteile auf dem Häusermarkt durch stärkere Familienbande? Kazım Erdoğan ist da vorsichtig. „Ich selbst habe von meiner Familie nichts bekommen – sondern die vermeintlich knauserigen Deutschen haben mir Geld geliehen, aus meinem Kollegenkreis.“

Pauschalisierungen, sagt er, sollte man grundsätzlich vermeiden. Sowohl was Menschen betrifft als auch Ortsteile. Hier der Norden, wo Krieg herrscht – da der friedliche Süden, das sei zu einfach. Das führe doch wieder nur zu Spaltung. „Nord-Neukölln, Rudow, Buckow, Britz: Das alles ist Neukölln. Neukölln mit all seinen sonnigen und dunklen, seinen hellen und finsteren Seiten.“

Dieser Text ist im fluter Nr. 89 „Liebe“ erschienen.
Das ganze Heft findet ihr hier.

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