„,Kasymyr Malewytsch – ukrainischer Künstler, Begründer des Suprematismus.‘ Das möchte ich in den Beschreibungen zu Malewytschs Gemälden in den Museen auf der ganzen Welt lesen.“ Die ukrainische Kunst werde schon lange durch Russland vereinnahmt, findet Jennifer Anorue. Malewytsch zum Beispiel, ein in Kyjiw geborener ukrainischer Künstler, der für seine moderne Malerei voller geometrischer Formen berühmt wurde, wird selbst im New Yorker Museum of Modern Art als russischer Avantgardekünstler bezeichnet. „Sie versuchen, nicht nur unser Land zu stehlen, sondern auch unsere Geschichte, prominente Persönlichkeiten, Künstlerinnen und Künstler“, sagt Jennifer, die mit ihrer eigenen Kunst die kolonial geprägte Perspektive auf die ukrainische Kultur hinterfragen will.
Jennifer ist 24 und stammt ursprünglich aus Charkiw. Mit 17 zog sie nach Kyjiw, um an der Kunstakademie zu studieren. Inzwischen arbeitet sie als Künstlerin und Model, macht parallel dazu ihren Master in Kunstgeschichte und -theorie. Nach der Ausweitung des russischen Angriffskrieges am 24. Februar 2022 flüchtete sie erst nach Dublin, seit Oktober lebt sie in Warschau. Gerade ist sie aber in Kyjiw, um endlich mal wieder ihren Freund zu sehen, der als Soldat im Krieg kämpft und einige Tage freibekommen hat. Seine Erfahrungen hat Jennifer in eines ihrer Werke einfließen lassen, einen aus kleinen verpixelten Fotoquadraten bestehenden Würfel. Sie sollen die allmähliche Entfremdung von nahestehenden Menschen zeigen – statt der üblichen Kriegsbilder von Zerstörung und Tod.
Oft glauben ihr andere Menschen nicht, dass sie Ukrainerin ist, weil sie nicht den gängigen Klischeevorstellungen entspricht. Ihr Vater ist Nigerianer, ihre Mutter Ukrainerin. Die Frage nach ihrer Identität stellte sie sich seit ihrer Geburt immer wieder: „Bin ich Ukrainerin?“ Seit dem 24. Februar ist sie sich dessen sicherer denn je. Fragt man sie nach dem, was „typisch ukrainisch“ ist, antwortet sie: Selbstironie, der Wunsch nach Freiheit, Mut.
Für ihr neues Projekt setzt sich Jennifer Anorue mit ihrem Status als Geflüchtete auseinander: mit dem Leben in ständiger Unsicherheit, der permanenten Befürchtung, bald wieder den Ort wechseln zu müssen – und dabei mit Vorurteilen gegenüber People of Color und Geflüchteten zugleich konfrontiert zu sein. Einerseits sei sie sehr dankbar für die Hilfe, die Geflüchtete aus der Ukraine in anderen Ländern bekämen – andererseits stoße sie immer wieder auf Missverständnisse: Geflüchtete, die sich stilvoll kleiden, in Cafés gehen oder ein Auto haben, würden von manchen Menschen dafür verurteilt. „Dabei hatten die Ukrainerinnen und Ukrainer vor dem Krieg doch ein normales Leben, ihren normalen Alltag. Es ist doch nicht verwerflich, sich ein Stück dieser Normalität zurückholen zu wollen!“
Früher machte Jennifer Anorue Werbung für Samsung, die Telekom und andere große Konzerne, Kyjiw war ein beliebter Drehort für solche Produktionen. Nun hat sie erst mal einen Vertrag bei einer Agentur in Warschau unterzeichnet. Zunehmend politische Künstlerin und Model: Zwischen diesen zwei Welten fühlt sie sich manchmal hin- und hergerissen. Einerseits. Dass sie beides leben kann, hilft ihr andererseits, gerade jetzt stark sein zu können.
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