Dezember 2022: Trommelattacken rauschen durchs Berliner Tempodrom. Anfangs ähneln die Melodien einem meditativen Flow, nur um dann aus dem Nichts heraus wild und widerspenstig vorzupreschen. Nonstop seit mehr als einem Jahr touren DakhaBrakha mit pechschwarzen Pelzmützen und knallrotem Lippenstift durch die USA, Mexiko und Europa. Mit den Konzerten sammeln sie Spenden für ihr Heimatland. Wie ein Mantra rezitieren sie dabei die immer gleiche Botschaft: „Russia is a terrorist state. Arm Ukraine. Stand with Ukraine.“
Aus dem Altukrainischen übersetzt bedeutet DakhaBrakha „GebenNehmen“. 2004 gründete der Theaterdirektor Vladyslav Troitskyi das Quartett mit dem Sänger Marko Halanevych und den Musikethnologinnen Nina Garenetska, Olena Tsybulska und Iryna Kovalenko. Sie sind die Hausband des Center of Contemporary Art „DAKH“ in Kyjiw. Dort hatten sie begonnen, Volkslieder zu recyceln, die jahrzehntelang im Vorraum des Vergessens geschlummert hatten. Schicht für Schicht legten sie Altes und Experimentelles übereinander, mischten Cello, Akkordeon und Synthesizer mit Punk, Hip-Hop und Percussion aus der ganzen Welt. Und weil ihre Musik in kein Genre zu pressen war, erfanden sie eines: „Ethno-Chaos“.
2010 kürte die Elite von Sankt Petersburg diesen Habitus noch mit einem großen Preis für moderne Kunst. Heute wäre das undenkbar. Mit der Krim-Annexion 2014 wandten sich DakhaBrakha von Russland ab und traten stattdessen ihren Siegeszug im Westen an, wo man sie von Neuseeland bis in die USA und Brasilien feierte. Sie erzählten der Welt die Selbstermächtigungsstory eines Volkes: provokativ und gewillt zum Bruch mit sowjetnostalgischen Geschichten.
Sie mischen Cello, Akkordeon und Synthesizer mit Punk, Hip-Hop und Percussion aus der ganzen Welt
Dem Sowjetregime galten Volkslieder auf Ukrainisch als bäuerlich und primitiv. Zeitweise versuchte man, sie auszuradieren, vieles ging verloren. Heute stiften dieselben Lieder den Ukrainern ein Gefühl von Heimat. Sie sind das Gedächtnis ihres vom Krieg gebeutelten Landes. DakhaBrakha gehörten zu den Ersten, die diese Identitätslawine lostraten. Sie singen über Liebe, Herzschmerz oder die Jahreszeiten. Aber oft sind das Metaphern für etwas Größeres, Politisches. Besonders elegant gelingt ihnen das auf ihrem dritten Album, „Light“ von 2010, einer musikalischen Collage, die durch ukrainische Regionen und Epochen führt. Der Song „Karpatskiy rep“ (Karpatischer Rap) mischt Elemente vom Bergvolk der Huzulen in den Karpaten mit Klängen der Zentralukraine, reinterpretiert sowjetische Folklore und mündet dann in Rap-Passagen und feministische Kritik.
Weit weniger subtil ist das Album „Shlyah“ (The Road) von 2016 mit Bezügen auf die Majdan-Revolution und den Konflikt mit Russland. DakhaBrakha widmen die Platte den im Kampf gefallenen ukrainischen Soldaten und konzipieren sie als Reise in die entlegensten Winkel der Ukraine – auch in die seit 2014 besetzten Gebiete. Mit dem tatarischen Liebeslied „Salgir boyu“ zeigen sie Solidarität mit den Krimtataren. Diese wurden als Minderheit von Russland unterdrückt. Heute fühlen sie sich der Ukraine zugehörig.
Die Ukraine sei zwar ein junger Staat, aber ein uraltes Volk, sagt der Sänger Marko Halanevych. „Wir Ukrainer sollten keine Minderwertigkeitskomplexe haben. Wir sind keine rückständigen Hinterwäldler, sondern progressive Künstler. Wundervolle, kreative Menschen, die sich nach Freiheit sehnen, nach einem Leben in Zivilisation.“ Für diese Freiheit kämpfen sie auf der Bühne.
Titelbild: Vitaly Yurasov