Thema – Flucht

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Die Unsichtbaren

Fast 2.400 Menschen sitzen in Griechenland in Abschiebehaft – oft unter miserablen Bedingungen, abgeschirmt von der Öffentlichkeit und völlig im Unklaren darüber, wie es für sie weitergeht. Einer von ihnen ist Reza Karim*

Gestern hat er sich ein Bein gebrochen. Beim Fußballspielen, draußen im Innenhof, erzählt Reza Karim* Mitte August am Telefon. Etwa zwei Monate zuvor schickte Karim ein verwackeltes Video aus demselben Innenhof an einen Menschenrechtsaktivisten. „Wir haben seit drei Tagen kein Wasser“, sagt eine Männerstimme im Hintergrund darin. „Wir können nicht mehr.“

In der gegenüberliegenden Zelle zündet ein Gefangener Papierschnipsel an und lässt sie durch die Gitterstangen fliegen. Auf den ersten Blick sehen sie aus wie verschwommene Leuchtkerzen in einer Silvesternacht. Dann stellt die Kamera scharf, auf den Hof des Abschiebegefängnisses in Korinth, in dem zwei Polizisten auf das kleine Feuer zugehen.

Ein Mann habe sich gestern mit einer Rasierklinge Brust und Unterarme aufgeschnitten, erzählt Karim

Es wird einer der wenigen Proteste in einem von acht Abschiebegefängnissen in Griechenland bleiben, der einen Weg in die Öffentlichkeit findet. Doch weiter als in Aktivist:innengruppen in den sozialen Medien bringt es auch dieser Hilferuf nicht. Ein paar Wochen nach dem Video findet das erste Telefonat mit Karim statt. Ein Mann habe sich gestern mit einer Rasierklinge Brust und Unterarme aufgeschnitten, erzählt er. Trotz wiederholten Bittens habe er statt eines Arztes weiter nur Schmerzmittel bekommen.

Endgültig belegen lassen sich Karims Erzählungen nicht, aber sie stimmen überein mit dem, was Beobachter:innen von Menschenrechtsorganisationen und vom Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter (CPT) schildern. Fast 2.400 Geflüchtete sitzen derzeit in Griechenland in Abschiebehaft, auf unbestimmte Zeit. Ende März bekam das Thema kurz Aufmerksamkeit, nachdem der 24-jährige kurdische Asylbewerber Ibrahim Ergün Selbstmord begangen hatte. Er war rund 17 Monate im Korinther Abschiebezentrum inhaftiert. Nach griechischem Recht dürfen Asylantragsteller:innen mit zwei negativen Asylbescheiden bis zu 18 Monate lang inhaftiert werden und das Gelände nicht verlassen. In Ausnahmefällen kann die Inhaftierung verlängert werden.

 

Karim ist seit knapp einem halben Jahr in Korinth. Das größte Abschiebegefängnis im Land liegt etwa 85 Kilometer von Athen entfernt. Mit über 750 anderen Personen wird der 26-Jährige aus Afghanistan hier festgehalten. „Mir hat keiner gesagt, warum ich hier bin“, sagt Karim am Telefon, „ich habe nur ein griechisches Papier, auf dem steht, dass ich seit drei Monaten hier bin. In drei Monaten bekomme ich wieder eins, auf dem dann steht, was mit mir passieren soll.“

Nach einer Polizeikontrolle am Hafen von Patras, an dem sich normalerweise die Touristenfähren und internationalen Gütertransporte kreuzen, wurde Karim wegen fehlender Papiere in das Abschiebezentrum nach Korinth gebracht. Im Jahr 2015 floh er aus jener Region im Norden von Afghanistan, deren Hauptstadt Anfang August als erste große Stadt von den Taliban eingenommen wurde: Kunduz, eine Steppenlandschaft, in der noch immer Nomaden leben. Karim studierte Jura an der Kunduz University, erzählt er. Bis die Taliban in die Stadt einfielen und seinen Bruder töteten. Danach war das Leben der ganzen Familie in Gefahr, sagt Karim. Zwei Jahre blieb er noch als Binnenvertriebener in Afghanistan, dann wurde es Karim endgültig zu gefährlich, und er floh nach Europa. Die letzten zwei Jahre bis zu seiner Inhaftierung lebte er in einem alten Industriegebäude am Hafen von Patras.

„Als ich herkam, gaben mir die Wachen eine Seife und eine Zahnbürste. Die Zahnbürste benutze ich noch immer, eine neue Seife gibt es nicht“

Wie es jetzt mit ihm weitergehen soll, weiß er nicht. Seit eineinhalb Jahren hat die Türkei, über die Karim geflohen ist, niemanden aus Griechenland mehr zurückgenommen. Die Rückführungen in die meisten Heimatländer gehen nur schleppend voran, nach Afghanistan sind sie momentan ganz ausgesetzt. Das Besondere an Karims Fall: Im Gegensatz zum Rest der Geflüchteten, die normalerweise im Abschiebegefängnis sitzen und einen negativen Asylbescheid haben, hatte Karim bis dahin laut eigener Aussage noch nicht einmal Fingerabdrücke abgegeben, um einen Asylantrag in Griechenland zu stellen. Den Antrag stellt er nun in Abschiebehaft, denn laut dem griechischen Gesetz können in Ausnahmefällen auch Asylbewerber:innen, deren Verfahren noch laufen, in Griechenland inhaftiert werden.

Mitte Juli, am Tag des muslimischen Opferfestes Id al-Adha, rief Karim zum ersten Mal an. Auf die Frage, ob er an diesem Tag etwas anders macht als sonst, sagt er: „Wir stapeln uns in der Zelle, an Feiern ist nicht zu denken. Im Moment gibt es kein sauberes Trinkwasser, die meisten Menschen haben Magenkrämpfe. Aber fragen wir nach einem Doktor, bekommen wir nur Schmerztabletten.“ Einmal in der Woche dürften sie Zigaretten kaufen. Sonst nichts. „Als ich hierherkam, gaben mir die Wachen eine Seife und eine Zahnbürste“, sagt Karim am Telefon. „Die Zahnbürste benutze ich noch immer. Eine neue Seife gibt es nicht.“ Sein Laken wäscht er nur mit Wasser aus Plastikflaschen oder im Waschbecken, wenn es fließendes Wasser gibt. Danach hängt er es während der Ausgangszeiten hinaus in den Innenhof. Von morgens um 8 bis mittags um 13 Uhr.

Abschiebegefängnis in Amygdaleza (Foto: Wassilios Aswestopoulos/NurPhoto via Getty Images)
Die Abschiebehaft soll eigentlich keine Bestrafung sein, tatsächlich unterscheiden sich die Lebensbedingungen aber häufig kaum von Gefängnissen. Das Foto wurde 2015 im Amygdaleza-Lager aufgenommen (Foto: Wassilios Aswestopoulos/NurPhoto via Getty Images)

Laut griechischem und europäischem Recht müssen sich die Abschiebezentren für Geflüchtete klar von Gefängnissen unterscheiden. Die Abschiebehaft soll keine Bestrafung sein, sondern eine Vorbereitung auf die Rückführung in ein sicheres Drittland oder das Herkunftsland. In der Realität unterscheiden sich die Lebensbedingungen in vielen Abschiebezentren wie dem in Korinth kaum oder nicht von Gefängnissen.

Seit 2020 ist die Inhaftierung von Geflüchteten laut NGOs und Menschenrechtsanwält:innen immer mehr zur Praxis geworden. „Dabei“, sagt Minos Mouzourakis, Rechtsreferent der griechischen Organisation „Refugee Support Aegean“ (RSA), „darf diese Form der Inhaftierung erst in letzter Instanz erfolgen.“ Also erst dann, wenn alternative Maßnahmen ausgeschöpft seien – zum Beispiel die Möglichkeit, dass die betroffenen Personen sich regelmäßig bei den Behörden meldeten. „Doch seit Jahren haben sie die Ausnahme zur Regel gemacht, auch um Menschen abzuschrecken, in Europa um Asyl anzusuchen“, so Mouzourakis.

„Jetzt haben wir zwanzig neue Menschen auf unserer Etage. Dabei wird kaum jemand entlassen“

Das Anti-Folter-Komitee des Europarats verurteilte die Zustände in den griechischen Abschiebehaftanstalten in den vergangenen Jahren scharf – zum wiederholten Mal. Neben den miserablen Lebensbedingungen stehen auch der fehlende Rechtsbeistand und die mangelhafte medizinische Versorgung in der Kritik. Außerdem bekämen die Menschen kaum Informationen in ihrer Sprache, da es zu wenig Übersetzer:innen gebe. Ein Bericht der RSA über die erste Jahreshälfte 2021 kommt zu ähnlichen Ergebnissen: Die meisten inhaftierten Geflüchteten würden häufig mehr als ein halbes Jahr dort festgehalten, hätten dabei aber kaum Zugang zu Ärzt:innen, Jurist:innen oder Psycholog:innen.

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Wie kann es sein, dass Menschen in der Europäischen Union unter solchen Bedingungen inhaftiert sind? Auf die Bitte, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen, hat das griechische Migrationsministerium trotz wiederholter Nachfrage über mehrere Wochen hinweg nicht geantwortet. Die EU-Kommission wiederum hat sich in der Vergangenheit grundsätzlich für das System der Abschiebegefängnisse in der EU ausgesprochen. „Die Abschiebehaft kann essenziell zur Verbesserung der Wirksamkeit des EU-Rückführungssystems beitragen“, heißt es etwa in einem Empfehlungsschreiben der Kommission von 2017.

Wie steht die Kommission heute zu ihren Aussagen von 2017, und was sagt sie zu der aktuellen Lage in den griechischen Abschiebegefängnissen? „Die Kommission“, heißt es auf Anfrage, „steht in engem und ständigem Kontakt mit den griechischen Behörden, um das Migrationsmanagement zu verbessern, auch in Bezug auf die Abschiebehaft.“

Der nächste Schritt auf EU-Ebene: Nach einem Besuch einer Evaluierungsgruppe der EU-Kommission im Mai dieses Jahres soll bald ein neuer Bericht zu den Bedingungen für Geflüchtete im Land vorliegen.

Während eines Großteils der Recherchen für diesen Text herrscht in Griechenland die schlimmste Hitzewelle seit mehr als 30 Jahren. Landesweit brennen Wälder, Menschen werden aus ihren Häusern evakuiert. Karim bleibt bei über 40 Grad in seiner Zelle zurück. Von den Feuern hat er an diesem Tag im August nichts gehört. Seit etwa zwei Wochen, erzählt Karim am Telefon, kommen immer mehr Menschen auf seinem Stockwerk an. „Jetzt haben wir zwanzig neue Menschen auf unserer Etage, zwei neue in unserer Zelle. Dabei wird kaum jemand entlassen.“ Erst vor ein paar Tagen versuchten einige auszubrechen, erzählt er. Was mit ihnen passiert ist, weiß er nicht.

Karim schickt ein Bild von einem Mann in einem stacheldrahtumzäunten Container nebenan. Der Mann ist nackt. „Er hat seinen Verstand verloren“, sagt Karim, „sprechen kann ich nicht mit ihm.“ Er schickt auch ein Bild von seinem Gips. Er hatte Glück. Er konnte für wenige Stunden ins Krankenhaus.

* Reza Karim heißt eigentlich anders. Sein Name ist der Redaktion bekannt.

Unser Titelbild zeigt das Abschiebezentrum in Fylakio (Foto: Byron Smith/Getty Images).

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.