
Wie geht es den Menschen in Afghanistan unter den Taliban?
Seit der Machtübernahme 2021 ist das Land isoliert. Während manche auf internationale Anerkennung hoffen, fordern andere noch härtere Sanktionen
Als es im Frühjahr 2024 immer häufiger und heftiger zu regnen begann, keimte bei den Bewohner:innen des kleinen Dorfes Fullol, knapp 200 Kilometer nördlich von Kabul, zunächst Hoffnung auf. Fast drei Jahre lang hatte in weiten Teilen des Landes eine verheerende Dürre geherrscht. Der Regen versprach eine gute Ernte, erzählt der Bauer Mohibullah Mohaqiq. Doch die Freude währte nicht lange. Die Niederschläge wurden immer heftiger, bis eines Abends im Mai die Flüsse über die Ufer traten und sich in reißende Ströme verwandelten. „Es waren unglaubliche Wassermassen“, sagt Mohaqiq.
Der 65-Jährige, ein kleiner Mann mit grauem Turban und stolzem Gang, steht wenige Wochen nach der Flut, die weite Teile des Landes verwüstete, am Rande des kleinen Dorfes und blickt auf eine ausgetrocknete, von tiefen Rissen durchzogene Fläche, auf der bis vor kurzem noch sein Haus und seine Obstbäume standen. Allein in Fullol ertranken 62 Menschen, fast alle Häuser wurden von den Wassermassen zerstört. Bis heute lebt ein Teil der Dorfbewohner:innen in Zelten und provisorischen Notunterkünften. Doch Hilfe und Unterstützung seien nur spärlich in der abgelegenen Region angekommen, sagt Mohaqiq. Er glaubt, dass sich viele Hilfsorganisationen wegen der Politik der Taliban nicht mehr ins Land trauen. Er ist verzweifelt: „Wir können doch nichts für unsere Regierung.“
Mehr als ein Drittel der afghanischen Bevölkerung ist von Ernährungsunsicherheit betroffen
Als die Taliban im August 2021 die Macht in Afghanistan übernahmen, war das für viele Afghan:innen eine brutale Zäsur: Nach fast zwei Jahrzehnten kehrte für die Bevölkerung die Herrschaft der Taliban zurück, die das Land bereits von 1996 bis 2001 autoritär regiert hatten. Innerhalb weniger Wochen war die vom Westen gestützte afghanische Regierung zusammengebrochen, nachdem sich die USA und ihre Verbündeten aus dem Land zurückgezogen hatten. Heute ist das Land wieder eines der restriktivsten für Frauen und Mädchen weltweit. Mädchen dürfen nur bis einschließlich der sechsten Klasse zur Schule gehen, Frauen dürfen kaum außerhalb des Hauses arbeiten.
Vor allem westliche Regierungen, darunter auch Deutschland, lehnen deshalb bis heute Beziehungen zu den neuen Machthabern ab. International ist das Land weitestgehend isoliert. Gleichzeitig sinkt auch die humanitäre Hilfsbereitschaft: 2024 wurden nur rund 52 Prozent des von den Vereinten Nationen ausgerufenen Spendenziels von 3,06 Milliarden US-Dollar erreicht. Dabei befindet sich das Land nach wie vor in einer massiven wirtschaftlichen und humanitären Krise: Mehr als ein Drittel der afghanischen Bevölkerung ist nach Angaben der Vereinten Nationen von Ernährungsunsicherheit betroffen.

My body, their choice: Sittenwächter kontrollieren verstärkt die Kleidung von Frauen. Hier eine Frau in einem Markt in Kandahar
Über dreieinhalb Jahre nach der Machtübernahme spalten sich auch in der afghanischen Bevölkerung zunehmend die Meinungen über den Umgang mit den Taliban: Während die einen, die besonders unter den Taliban leiden, ein noch härteres Vorgehen der internationalen Gemeinschaft fordern, wünschen sich vor allem die Menschen in ländlichen Regionen eine Anerkennung ihrer Regierung, in der Hoffnung, ihre wirtschaftliche Situation könnte sich dadurch verbessern.
„Die internationale Gemeinschaft sollte sich mit den Taliban arrangieren“, sagt Bauer Mohaqiq, der in Fullol eine Maulbeerplantage betreibt und dem Ältestenrat des Dorfes angehört. 20 Jahre lang hätten internationale NGOs vor der Machtübernahme der Taliban in der Region Infrastrukturprojekte initiiert. „Soll das jetzt einfach alles verloren gehen?“, fragt er.
Zwar wünscht sich auch Mohaqiq, dass seine Töchter und Enkelinnen das Recht auf Bildung bekommen, aber im Moment sind ihm die Taliban lieber – auch wenn von denen nicht viel Unterstützung zu erwarten sei. Jahrzehntelang hätten die Menschen in Fullol direkt an der Frontlinie zwischen den Taliban und der afghanischen Armee gelebt. Fast täglich habe es Gefechte oder Bombardierungen gegeben. Jetzt herrsche zum ersten Mal seit fast vier Jahrzehnten so etwas wie Frieden. „Egal, was wir dafür in Kauf nehmen müssen, es ist besser als ein neuer Krieg“, sagt er.
Neben der humanitären Hilfe wirkt sich die Isolation des Landes auch auf die wirtschaftliche Lage aus. Khalid Faizi betreibt eine kleine Exportfirma für Trockenfrüchte, Teppiche und afghanische Kleidung. Als die Taliban 2021 die Macht übernahmen und die afghanische Wirtschaft zusammenbrach, sei sein Geschäft zunächst zum Erliegen gekommen. Nur mithilfe von Krediten anderer Familienmitglieder konnte es sich etwas erholen.
Eigentlich würde Faizi sein Geschäft gerne ausbauen, doch bisher hat er keinen ausländischen Investor gefunden
Aufgrund der wirtschaftlichen Restriktionen und der Isolation des Landes könne er bis heute weder Überweisungen aus dem Ausland empfangen noch selbst Geld schicken. Dabei gebe es offiziell keine Sanktionen gegen die afghanische Wirtschaft, sondern nur gegen die Taliban, sagt Faizi. Doch internationale Finanzinstitute schrecken aus Angst vor Reputationsschäden häufig vor Transaktionen mit afghanischen Unternehmen oder Investitionen in sie zurück.
Eigentlich würde der 30-Jährige sein Geschäft gerne ausbauen, zum Beispiel in den Abbau von Edelsteinen investieren. Doch bisher hat er keinen ausländischen Investor gefunden. Es brauche dringend ein Zeichen der internationalen Gemeinschaft, sagt er. „Denn die derzeitige wirtschaftliche Isolation schadet letztlich weniger den Taliban, sondern vor allem der afghanischen Bevölkerung.“

Zwei Talibankämpfer lassen sich zwischen Tauben in Kabul fotografieren
Ganz anders sehen das junge Frauen in den urbanen Zentren des Landes, die vor allem unter den Verboten der Taliban leiden. „Die Taliban haben alle getäuscht“, sagt die 22-jährige Fatima Mohamadi, deren Name zu ihrem Schutz geändert wurde. Mohamadi lebt mit ihrer Familie in Kabul. Zu Beginn der Talibanherrschaft, erzählt sie am Telefon, trug sie weder Burka noch Gesichtsmaske, wenn sie auf die Straße ging. Mittlerweile sei das undenkbar, immer mehr Sittenwächter seien unterwegs, um die Kleidung der Frauen zu kontrollieren. „Ich gehe kaum noch auf die Straße“, sagt Mohamadi.
Bei der Machtübernahme vor dreieinhalb Jahren stand die 22-Jährige kurz vor ihrem Abschluss in Sozialwissenschaft an einer Universität in Kabul und wollte danach einen Master in Journalismus machen. Wie viele andere Afghan:innen hatte sie zunächst die Hoffnung, dass die Taliban sich im Gegensatz zu ihrer ersten Herrschaft in den 1990er-Jahren vielleicht geändert hätten. Es gebe einen großen Unterschied zwischen den Taliban von damals und heute, hatte ein Sprecher der neuen Regierung damals verlauten lassen. Monatelang konnten sie und ihre Kommilitoninnen die Universität besuchen und ihr Studium unter strengen Auflagen fortsetzen. Doch dann verboten die Taliban im Dezember 2022 auch das.
Immer wenn sie sich an ein neues Verbot gewöhnt habe, komme das nächste, sagt Mohamadi
„Sie wussten von Anfang an, dass sie ihre Verbote nur schrittweise einführen können, um Widerstand in der Bevölkerung zu vermeiden“, sagt Mohamadi. Inzwischen hat sie sich, erzählt sie, wie viele andere Frauen ein eigenes Online-Business aufgebaut. Auf dem Großmarkt in Kabul kaufe sie Kosmetik ein und vertreibe diese anschließend über eine WhatsApp-Gruppe. Bisher würden Geschäfte, die Frauen von zu Hause aus ausüben, durch Taliban noch toleriert, aber sie habe wenig Hoffnung, dass das so bleibe. Immer wenn sie sich an ein neues Verbot gewöhnt habe, komme das nächste, sagt sie.
Die Taliban müssten so lange international isoliert werden, bis sie sich an die Menschenrechte hielten, fordert Mohamadi. Wirtschaftliche Probleme hätten die Afghan:innen schon immer gehabt. Derzeit ginge es aber um etwas Größeres: „Sie wollen uns Frauen aus der Gesellschaft verdrängen.“ Dagegen zu kämpfen, sei wichtiger als alles andere.
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Fotos: Johanna-Maria Fritz/OSTKREUZ