Was ist los in Afghanistan?
Seit August 2021 wird praktisch das ganze Land von den Taliban regiert. Aufstände in den Provinzen Panjshir und Baghlan wurden brutal niedergeschlagen. Die staatlichen Institutionen der vergangenen zwei Jahrzehnte wurden aufgelöst, darunter etwa das Parlament und das gesamte Präsidialsystem. Auch der Sicherheitsapparat, sprich: Armee, Polizei und Geheimdienst, brach in sich zusammen. Das Kriegsgeschehen in Afghanistan hat abgenommen, weil die Taliban den Konflikt für sich entscheiden konnten. Aber nun herrschen Hunger, Armut uns das neue alte Regime, das vor Repressionen nicht zurückschreckt.
Wer sind eigentlich die Taliban?
Die Taliban sind eine militant-islamistische Gruppierung, die Mitte der 1990er-Jahre in Afghanistan entstand und sich hauptsächlich aus ehemaligen Mudschahedin-Kämpfern rekrutierte. Zum damaligen Zeitpunkt herrschte im Land seit fast zwei Jahrzehnten Krieg. 1978 führten die afghanischen Kommunisten einen gewaltsamen Putsch durch, 1979 marschierte die Sowjetunion ins Land ein und besetzte es zehn Jahre lang. Verschiedene Rebellengruppierungen – die Mudschahedin – wurden damals von den USA, Pakistan, Saudi-Arabien und anderen Staaten unterstützt, weil sie der Sowjetunion im Kalten Krieg gegenüberstanden. Viele Talibankämpfer bekämpften einst die Sowjets und wuchsen zum Teil in pakistanischen Flüchtlingslagern auf, wo sie lokale Medressen (Koranschulen) besuchten.
Nach dem Abzug der Sowjets 1989 und dem Fall des letzten kommunistischen Regimes in Kabul 1992 bekämpften sich die Mudschahedin dann gegenseitig. Sie stürzten das Land in einen Bürgerkrieg, der mit dem Aufstieg der Taliban und ihrer ersten Herrschaft endete. Das Talibanregime schränkte die Rechte der Afghanen massiv ein, unterdrückte Frauen, verbot Film und Musik. Ihre fünfjährige Herrschaft fand mit Beginn des NATO-Militäreinsatzes nach den Anschlägen des 11. September 2001 ihr (vorläufiges) Ende.
Wie konnten die Taliban zurückkehren?
Der sogenannte „Krieg gegen den Terror“ der USA in Afghanistan hatte weitreichende Auswirkungen. Kurz nach ihrem Einmarsch verbündeten sich die US-Amerikaner mit fragwürdigen Akteuren, darunter brutale Warlords und korrupte Politiker wie Afghanistans Ex-Präsident Hamid Karzai. Sie waren im Grunde auch in den 1990er-Jahren für den Aufstieg der Taliban mitverantwortlich, die viele Afghanen anfangs als eine Art brutale Ordnungsmacht wahrnahmen. Sie höhlten Institutionen für ihre persönlichen Interessen aus und nutzten die Hilfsgelder in Milliardenhöhe, um sich zu bereichern. Im „Krieg gegen den Terror“ wurden UN-Schätzungen zufolge über 55.000 Zivilistinnen und Zivilisten in Afghanistan verletzt oder getötet. Die Korruption und die im Land vorherrschende Gewalt trieben viele Menschen in die Arme der Taliban.
Warum hat die afghanische Armee nicht gegen die Taliban gekämpft?
Die afghanische Armee hat jahrelang gegen die Taliban gekämpft. Am Ende wurde aber auch sie von der Korruption in Kabul eingeholt. Viele Soldaten existierten etwa nur auf dem Papier, während andere monate- oder gar jahrelang ohne Sold, ausreichend Munition und Nahrung kämpfen und ausharren mussten. Gleichzeitig fand eine Entfremdung zwischen den einfachen Soldaten an der Front und den korrupten Machthabern in der sogenannten „Kabuler Blase“ statt. Auch der Abzug der US-amerikanischen Soldaten und die zahlreichen Verluste im andauernden Krieg untergruben die Moral der afghanischen Armee.
Haben sich die Taliban verändert?
Die Taliban haben sich in vielerlei Hinsicht verändert, vor allem im Umgang mit Medien und Technologie. Mittlerweile wissen sie, wie man sich auf der politischen Weltbühne verhält und pflegen seit Jahren Kontakte zu den verschiedensten Regierungen. Ideologisch handelt es sich aber immer noch um die Taliban der 1990er-Jahre: Nahezu die gesamte Führungsriege der Extremisten besteht aus dem nahen Umfeld des mittlerweile verstorbenen Talibangründers Mullah Omar. Die Taliban streben ein autoritäres Regime an. Ihre Regierung besteht ausschließlich aus Talibanmitgliedern. Außerdem haben die Taliban ein Legitimationsproblem in Afghanistan, weil sie in den vergangenen zwei Jahrzehnten hauptsächlich einen Guerillakrieg führten und für zahlreiche terroristische Anschläge verantwortlich waren.
Wie verhalten sich die Taliban gegenüber Frauen?
Nach der Rückkehr der Taliban – deren Regime gerade ausschließlich aus Männern besteht – wurde das Frauenministerium abgeschafft. Das war offiziell für die Repräsentation afghanischer Frauen zuständig. Laut einem Dekret dürfen Frauen gerade ohne männliche Begleitung keine Flugreisen antreten. Sonst unterscheidet sich ihre Situation von Region zu Region. In vielen Provinzen dürfen Mädchen und junge Frauen nicht mehr zu weiterführenden Schulen oder Universitäten. Frauenproteste wurden von den Taliban zuletzt brutal niedergeschlagen, Frauenrechtsaktivistinnen entführt und sogar getötet. Offiziell bestreiten die Taliban, dass sie damit in Verbindung stehen. Sie bemühen sich um ein frauenfreundlicheres Image, das viele Beobachter für unglaubwürdig halten.
Gibt es Widerstand gegen die Taliban?
Seit ihrer Rückkehr haben die Taliban Widerstandskämpfer in weiten Teilen Afghanistans vollständig entwaffnet. Die sogenannten „Nationalen Widerstandsmilizen“ (NRF) um Ahmad Massoud, Sohn des Mudschahedin-Kommandanten Ahmad Schah Massoud, konnten sich nur kurzzeitig verteidigen und spielen im bewaffneten Konflikt mittlerweile keine Rolle mehr. Da sie mit den korrupten Warlord-Strukturen des vorherigen Regimes verbunden waren, werden sie von der lokalen Bevölkerung kaum unterstützt.
Eine Gruppe, die die Taliban bedroht, ist die afghanische Zelle des IS, der seit einigen Jahren auch in Afghanistan präsent ist. Die beiden Gruppen bekämpfen einander seit Jahren. Der IS, der religiöse Minderheiten wie Schiiten oder Sikhs jagt, gilt als deutlich radikaler als die Taliban. Er betrachtet selbst die Taliban als „vom Glauben abgefallen“, weil die vor zwei Jahren mit der US-Regierung an einem Tisch saßen und einen Friedensdeal (Doha-Abkommen) unterzeichneten. Beide Gruppen unterscheiden sich auch ideologisch voneinander: Die nationalistisch-islamistische Agenda der Taliban reicht nicht über die Grenzen Afghanistans hinaus. Der IS dagegen strebt ein globales dschihadistisches Kalifat an.
Wie geht es jetzt weiter in Afghanistan?
Viele Staaten um Afghanistan herum, zum Beispiel Pakistan, Iran oder China, haben sich bereits vor Jahren mit den Taliban arrangiert – und unterstützen sie auch. Ähnlich könnten sich jetzt auch immer mehr westliche Staaten verhalten. Die EU hat etwa begonnen, wieder eine minimale Präsenz in Afghanistan aufzubauen. Der größte Hebel liegt weiter in den Händen der USA: Wegen des Kriegsausgangs sanktionieren sie das Talibanregime, treffen damit aber in erster Linie Millionen von afghanischen Zivilistinnen und Zivilisten. Da praktisch kein Staat in der Region demokratisch regiert wird, werden sich wohl irgendwann auch in Washington, Brüssel und andere westliche Zentren mit dem Gedanken anfreunden müssen, mit den Taliban zusammenzuarbeiten.
Titelbild: Daniel Etter/laif