fluter.de: Maria Aljochina, Sie sind vor wenigen Wochen aus Moskau geflüchtet, damit die Europa-Tour von Pussy Riot nicht platzt. Wie haben Sie die bisherigen Auftritte erlebt?
Maria Aljochina: Die Tour läuft gut. Wir sammeln Geld für ein Krankenhaus in Kiew, das Kinder behandelt, die von russischen Bomben verletzt wurden. Und wir können jeden Abend mit einem westlichen Publikum sprechen. Unsere Botschaft ist schnell zusammengefasst: Wir fordern ein Embargo für russisches Gas und Öl. Wir fordern die Enteignung russischer Oligarchen und dass das Geld zum Wiederaufbau der Ukraine benutzt wird.
Die Debatte in Deutschland war in den vergangenen Wochen geprägt von zwei Lagern: die einen, die Waffenlieferungen fordern. Und die anderen, die zögern, auch aus Angst, dass der Krieg weiter eskaliert.
Ich habe von dieser sogenannten neuen Welle des Pazifismus in Deutschland gehört. Was zur Hölle? Leute sterben. Und nicht, weil zwei Seiten gegeneinander kämpfen. Das ist eine Invasion durch ein gigantisches Imperium mit Ressourcen und Geld aus dem Westen. Wenn jetzt nicht die Zeit ist, Waffen an die Ukraine zu schicken, wann dann?
„Es ist dumm zu glauben, dass Putin mit der Ukraine aufhören wird“
Einige Menschen fürchten einen dritten Weltkrieg.
Können Sie diesen Leuten etwas ausrichten? In den 2000ern hat die russische Propaganda begonnen, eine Siegesschleife als das Hauptsymbol für „unseren großen Sieg 1945“ zu benutzen (Aljochina sucht kurz auf ihrem Smartphone und zeigt ein Foto eines Sankt-Georgs-Bands). Das wird überall hingehängt am 9. Mai. Aber es wurde auch auf einer Pro-Putin-Demo in Berlin benutzt. Damit geht meistens ein Slogan einher: „на берлин.“
Was heißt das übersetzt?
„Auf nach Berlin.“ Leute in Deutschland glauben vielleicht, dass dieser Krieg jetzt noch weit weg ist. Aber ein zweiter, sehr beliebter Slogan ist: „можем повторить“, „Wir können es wieder tun“. Einige Leute aus dem Team von Alexej Nawalny und einige Journalist*innen von Doschd, dem unabhängigen russischen TV-Sender (Anm.: Der Sendebetrieb wurde im März „vorläufig eingestellt“), übersetzen russische Propaganda ins Englische und zeigen damit: Es ist dumm zu glauben, dass Putin mit der Ukraine aufhören wird.
Weil Sie von Nawalny sprechen: Sehen Sie eine politische Zukunft für ihn in Russland?
Natürlich hat er eine Zukunft. Er kam zurück, nachdem er vergiftet wurde. Das war eine der heroischsten Gesten der modernen Geschichte. Aber wir können diesen heldenhaften Teil überspringen. Er hat ein fantastisches Team. Und dieses Team macht einzigartige und wichtige Arbeit – auch jetzt. Sie recherchieren und finden Besitztümer von russischen Oligarchen, Villen, Yachten, Bankkonten, und sie drängen westliche Politiker*innen dazu, zu handeln.
Wie sieht es mit der übrigen Opposition aus?
So viele Menschen sitzen gerade für ihre politischen Ideale im Gefängnis. Wir haben Tausende, wenn nicht sogar Millionen, die im Parlament sitzen könnten, auf dem Stuhl des Präsidenten, auf Ministerposten. Es ist nur so: Jedes Mal, wenn sie es versuchen, landen sie nicht im Ministerium, sondern im Gefängnis.
Wie steht es um kritische Künstler*innen? Gibt es noch Proteste innerhalb Russlands?
Proteste auf der Straße gibt es, soweit ich weiß, nicht – weil die Leute schon direkt in der Nähe ihrer Häuser festgenommen werden, auch wenn sie einfach nur etwas in Social Media gepostet haben. Aber es gibt Partisanenaktionen. Mehrere Rekrutierungszentren der Armee wurden angezündet. Es gibt auch ganz viele subtile Aktionen in den Straßen, Graffiti, Sticker.
In einem Interview haben Sie von der Autorin und Musikerin Sascha Skotschilenko erzählt. Sie hat in einem Supermarkt den Preisschildern Todeszahlen des Ukraine-Kriegs hinzugefügt. Nun sitzt sie im Gefängnis.
Sascha ist Teil einer Initiative des feministischen Anti-Kriegs-Widerstands, eine Gruppe von jungen Frauen, die sich kurz nach Beginn des Krieges gegründet hat. Die Sache mit den Preisschildern war nur eine Aktion. Sie haben zum Beispiel selbst Friedhofskreuze gebaut und überall hingestellt, in Gärten, Innenhöfe, in den Wald, auf Felder, die Straßen. Und anstelle von Namen und Lebensdaten haben sie die Zahlen der Toten in der Ukraine draufgeschrieben: 5.000 Menschen in Mariupol gestorben.
Tun sich Akteur*innen auch zusammen?
Es gibt viele Initiativen, aber sie sind nicht zentral koordiniert. Es gibt kein Zentrum. Aber es gibt diese Menschen. Schauen Sie sich Juri Schewtschuk an, ein alter russischer Rockmusiker. Er hat kürzlich ein großes Konzert gegeben und auf der Bühne gesagt: „Das Mutterland ist nicht der Arsch des Präsidenten, der die ganze Zeit geküsst werden muss.“ Die Polizei hat backstage zwar schon auf ihn gewartet, aber das Publikum hat geschrien: „Fuck the war!“ Ein paar Tage später dasselbe bei einem Konzert des feministischen Kollektivs Kis-Kis in St. Petersburg.
Protestkultur und Aktivismus haben sich im Westen mit einer jüngeren Generation sehr auf Social Media verlagert. Das wird manchmal jedoch als rein performative Solidarität kritisiert.
Natürlich sind Straßenaktionen am besten. Aber jede Geste ist wichtig. Wenn du nicht bereit bist oder aus irgendeinem Grund nicht auf die Straße gehen kannst, dann poste! Das ist das Minimum. Jede Aktion ist wichtig. Seid nicht gleichgültig! Wir müssen weitermachen, damit unsere Stimmen nicht zum Hintergrundrauschen verkommen. Das wäre schrecklich. Weil die Ukraine dann den Krieg verlieren könnte. Und das wäre ein Albtraum.
Maria Wladimirowna Aljochina wurde 1988 in Moskau geboren. Sie ist eine politische Aktivistin und Performancekünstlerin. Bekannt wurde sie als Mitglied der feministischen Punkband Pussy Riot. Nach deren berühmtester Putin-kritischen Protestaktion, dem „Punk Prayer“ in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau 2012, wurde sie zu zwei Jahren Straflager verurteilt. Ihre Erlebnisse hat Aljochina in dem Buch „Riot Days“ niedergeschrieben, das die Grundlage für die aktuellen Performances von Pussy Riot bildet.