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Sascha Kazanzewa klärt in den sozialen Medien über queere Themen auf. Wie lange sie das noch tun kann, ist unklar. Denn „informelle Bildung“ steht in Russland nun offiziell unter staatlicher Kontrolle

Sascha Kazanzewa

„Wie finde ich meine sexuelle Orientierung heraus?“, „Fünf Fakten über Fingering“ oder „Wie beseitige ich Menstruationsblut auf Matratzen, Bettlaken und Sofas?“ – die Telegram-Posts von Sascha Kazanzewa sind eine Mischung aus großen Lebensfragen, Sexualaufklärung und Alltagstipps. Über 37.000 Abonnentinnen und Abonnenten hat ihr Telegram-Kanal „Pomyla Ruki“ (Gewaschene Hände) – einer der wenigen Kanäle in Russland, der Aufklärung für queere Frauen, Transpersonen, intersexuelle und nichtbinäre Menschen betreibt. 

Sascha, 35, teilt mit ihren Leserinnen Informationen, die auf Russisch nicht einfach zu finden sind: zum Beispiel wie man sich beim lesbischen Sex vor sexuell übertragbaren Krankheiten schützt oder eine LGBTQ+-freundliche Gynäkologin findet. Außerdem betreibt sie einen Instagram-Kanal und hat das mittlerweile eingestellte queere Magazin ozine.ru mitbegründet, übersetzt ins Russische und redigiert Inhalte von OMGyes – einer der bekanntesten Aufklärungsseiten über die weibliche Sexualität weltweit. 

In Russland ist es verboten, wohlwollend über gleichgeschlechtliche Beziehungen zu berichten

Als queere Aufklärerin in Russland bekommt Sascha regelmäßig Hassnachrichten, während eines Shitstorms können es auch Hunderte am Tag sein. „Ein paarmal fanden Menschen sogar meine Nummer heraus, um mir dann am Telefon zu sagen, dass ich widerwärtig sei.“ Zudem muss Sascha regelmäßig fürchten, dass ihre Arbeit nach dem Gesetz gegen sogenannte „Homo-Propaganda“ unterbunden wird: Das 2013 beschlossene Gesetz verbietet positive Äußerungen über gleichgeschlechtliche Beziehungen gegenüber Minderjährigen und in den Medien.

Seit diesem Sommer macht ein weiteres Gesetz Saschas Arbeit noch schwieriger. Am 1. Juni 2021 trat eine Gesetzesänderung in Kraft, welche die Kontrolle über informelle Bildung der Regierung der Russischen Föderation überträgt. Darin ist zum ersten Mal definiert, was als informelle Bildung gilt: alle Aktivitäten, die außerhalb von Bildungsinstitutionen stattfinden und „die auf die Verbreitung von Kenntnissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Werten, Erfahrungen und Kompetenzen zum Zwecke der intellektuellen, geistigen und moralischen, schöpferischen, körperlichen oder beruflichen Entwicklung einer Person abzielen.“ 

„Wenn du dein Wissen teilst, musst du jederzeit davon ausgehen, dass der Staat etwas gegen dich in der Hand hat“ 

„Im Prinzip kann der Staat jetzt alles kontrollieren: meine Arbeit, aber auch einen Hobby-YouTube-Kanal übers Kochen“, sagt Sascha. „Und es ist vollkommen unklar, was man machen kann, um Probleme zu vermeiden.“ Denn noch ist nicht geregelt, wie und wie umfassend die Regulierung umgesetzt wird. Momentan gibt es weder konkrete Vorschriften, noch steht das Strafmaß für Verstöße fest. Möglich wäre aber zum Beispiel, dass Menschen wie Sascha eine Lizenz brauchen, um ihre Arbeit zu machen. Oder ihre Inhalte vor der Veröffentlichung mit Behörden abstimmen müssen. Noch gibt es jedoch keine Institutionen oder Richtlinien, an denen Aufklärer sich orientieren können.

„Ich glaube auch nicht, dass die Ministerien die Kapazitäten dazu haben, alle Bereiche zu kontrollieren, in denen Menschen anderen Menschen etwas beibringen“, sagt Sascha. „Es geht eher darum, Angst zu schüren. Ich lese das Gesetz so: Wenn du dein Wissen teilst, musst du jederzeit davon ausgehen, dass der Staat etwas gegen dich in der Hand hat.“ 

Seit der Entwurf dieser Gesetzesänderung im November letzten Jahres eingebracht wurde, erntete er heftige Kritik. Über 248.000 Menschen haben innerhalb von drei Monaten eine Petition auf change.org dagegen unterschrieben. Namhafte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sowie Bildungsorganisationen sprachen sich vergebens gegen eine Umsetzung aus. Darunter war auch Sergej Lukaschewskij, 45. Er leitet das Sacharow-Zentrum, ein Kulturzentrum und Museum mit dem Fokus auf Menschenrechte und Repressionen in der ehemaligen Sowjetunion.

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„In den letzten zehn Jahren gab es in Russland einen Aufschwung von informeller Bildung: Blogs zu jedem erdenklichen Thema, YouTube-Kanäle, selbstorganisierte Workshops und Vorträge. Ich fürchte, der wird jetzt abgewürgt“, sagt Sergej. „Viele Enthusiasten, die das sowieso ohne Bezahlung machen, werden Angst bekommen und ihre Arbeit aufgeben.“ 

Den Boom der Bildungsangebote erklärt Sergej so: „Einerseits ist es technisch einfacher geworden, Wissen weiterzugeben. Andererseits wurde es immer gefährlicher, sich politisch zu engagieren. Also suchten viele andere Möglichkeiten, sich auszudrücken.“

Das sei während der Sowjetzeit ähnlich gewesen: „Die Menschen konnten sich nicht frei politisch äußern und haben dann zum Beispiel ehrenamtlich Romane aus dem Ausland übersetzt oder Führungen als Lokalhistoriker angeboten.“ 

Dass der Staat nun die informelle Bildung regulieren will, ist für Sergej ein Zeichen, dass der Zivilgesellschaft immer mehr die Luft abgedreht wird. Die Gesetzesänderung verbietet zum Beispiel, informelle Bildung dazu zu missbrauchen, zu verfassungsfeindlichen Aktionen aufzurufen (worunter auch Demos fallen können), und vermeintliche Falschinformationen zu verbreiten. „Das war aber auch schon vorher nicht erlaubt. Ein weiteres Gesetz dazu ist pure Einschüchterung“, sagt er. 

 „Früher habe ich meine Arbeit als wissenschaftliche Bildung bezeichnet, aber das ist jetzt ein gruseliges Wort“

 

Die Ärztin Eva Zwetkowa, 30, veröffentlicht auf ihren Instagram- und Telegram-Kanälen eigentlich wenig Brisantes. Sie klärt über gesunde Ernährung und Endokrinologie auf – also über alles, was mit Hormonen zu tun hat. Oft übersetzt sie neue englischsprachige Studien und fasst sie auf Russisch verständlich zusammen. Auch wenn die Inhalte, die Eva postet, nicht explizit politisch sind, macht sie sich Sorgen. „Nachdem das Gesetz verabschiedet wurde, ging ich im Kopf sofort alles durch: Wofür könnte man mich belangen?“ Sie fürchtet, dass man ihre Posts als Anlass dafür verwenden könnte, sie für andere Aktivitäten zu bestrafen. 

Im vergangenen Jahr hat sie zum Beispiel in einem Interview mit dem Online-Nachrichtenportal Meduza angezweifelt, dass der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny unter einer Stoffwechselstörung leidet, wie russische Ärzte zuerst behauptet hatten. In diesem Jahr sei Eva dann bei einer Demo zur Unterstützung der russischen Künstlerin und Aktivistin Julia Zwetkowa festgenommen worden, erzählt sie. 

„Ich schreibe zwar meistens über wissenschaftliche Erkenntnisse, aber wer garantiert, dass das nicht als Falschinformation ausgelegt wird?“ Am meisten besorgt sie, dass die Gesetzesänderung so unkonkret ist: Jeder, der den Entscheidungsträgern negativ auffällt, könnte darunterfallen. „Gummigesetz“, so sagt man in Russland dazu. Noch postet Eva weiter. Als Aufklärerin bezeichnet sie sich aber nicht mehr. „Früher habe ich meine Arbeit als wissenschaftliche Bildung bezeichnet, aber das ist jetzt ein gruseliges Wort.“ Medizinischer Journalismus sagt sie jetzt meistens.

Titelbild: Dasha Tchainki

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