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Mehr Wut wagen

Anna Mayr war noch ein Kind – und schon arbeitslos. In ihrem Buch „Die Elenden“ fordert sie, Arbeitslosigkeit zu entstigmatisieren

  • 4 Min.
Jobcenter

Was weiß man als satter Mensch mit Durchschnittseinkommen schon von denen, die nicht arbeiten, den Mittellosen? Manch einer vermutet sie in den Plattenbauten an den Rändern deutscher Städte oder auf der anderen Seite des Parks, aber begegnen tut man ihnen selten. Wie auch: Arbeitslose sind vom Konsum, der einen Großteil unseres gesellschaftlichen Lebens prägt, weitgehend ausgeschlossen, genauso wie aus den sozialen Kreisen, die Erwerbstätige aufbauen. Wer deshalb glaubt, mit den Arbeitslosen in Deutschland nichts zu tun zu haben, den klärt Anna Mayr mit ihrem Buch „Die Elenden“ unsanft auf. Denn die Journalistin versteht Arbeitslosigkeit nicht als individuelles Schicksal der „Leistungsschwachen“, sondern als gesellschaftlichen Mechanismus. Die arbeitende Gesellschaft, so Mayr, verachte die Arbeitslosen, aber brauche sie auch. Arbeitslosigkeit sei also eigentlich erwünscht.

Argumente für diese provokante These nennt Mayr einige. Der Kapitalismus brauche die Arbeitslosen als Ressource, um Arbeit billiger kaufen zu können. Nach dem Motto: Je verzweifelter Menschen Jobs brauchen, desto schlechtere Arbeitsbedingungen akzeptieren sie. Außerdem profitieren Vermögende, so Mayrs zweiter Beleg, von der Armut, denn ihr Reichtum gründet auf einer Einkommensungleichheit zu ihren Gunsten. Das liege, so Mayr, an einer ungerechten Steuerpolitik, vererbtem Reichtum und einem zu niedrigen Mindestlohn.

Arbeitslose, schreibt Mayr, dienen Arbeitenden als drohendes Beispiel

Ihr drittes Argument ist eines, das weiter reicht, aber auch schwieriger zu belegen ist: Arbeitslose, sagt Mayr, würden aktuell auch die Funktion erfüllen, die Arbeitenden in Schach zu halten, weil ihr Schicksal für alle anderen als drohendes Beispiel dienen kann. Um der Arbeit in der „Leistungsgesellschaft“ einen Sinn zu geben, brauche es als Gegenstück die Verkörperung der Sinnlosigkeit: die Arbeitslosigkeit. Dieser Gedanke lässt sich nachvollziehen. Ähnlich argumentierte der Philosoph Michel Foucault schon 1975. In seinem Buch „Überwachen und Strafen“ stellt er fest, dass der Staat die Idee des Gefängnisses nutzt, um das Individuum zu reglementieren. Für das praktische Nachdenken über die Arbeitslosigkeit ist Mayrs Argument aber zweitrangig. Denn auch wenn durch die Corona-Krise verstärkt über Konzepte wie das Grundeinkommen diskutiert wird, dürfte die Abschaffung der „Leistungsgesellschaft“ noch etwas auf sich warten lassen.

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Anna Mayr (Foto: Anna Tiessen)
Wie sähe ein System aus, in dem auch Arbeitslose würdevoll leben? Fragt Anna Mayr, Redakteurin im Politik-Ressort der „Zeit“ (Foto: Anna Tiessen)

Mayrs Ausführungen über die gesellschaftliche Funktion der Arbeitslosigkeit sind kein Selbstzweck. Sie sind viel eher das argumentative Fundament für ihr Kernanliegen: Arbeitslosigkeit, so die Autorin, müsse endlich entstigmatisiert werden. Schließlich seien die wenigsten Arbeitslosen freiwillig arbeitslos. Dafür bürgt Mayr nicht mit Zahlen, sondern mit ihrer eigenen Biografie. Die 1993 im Ruhrgebiet geborene Mayr ist das Kind von Langzeitarbeitslosen. Heute ist sie Redakteurin der „Zeit“, hat ihn geschafft, den „Traum“ vom Aufstieg. Eine Formulierung, die sie selbst hasst.

Mit 16 erhält Mayr den ersten Brief vom Jobcenter

Das Buch wird durch ihre Schilderungen – und die Wut, mit der sie schreibt – unmissverständlich und dringend. So werden in „Die Elenden“ Exkurse über Karl Marx oder das vermeintliche Ende der Sozialdemokratie unterbrochen durch persönliche Anekdoten, die ihre Argumentation belegen sollen. Anstatt nur zu behaupten, dass Hartz IV ganze Familien stigmatisiere, beschreibt Mayr, wie sie mit 16 Jahren den ersten Brief vom Jobcenter erhält – mit der Aufforderung zum Beratungsgespräch. „Natürlich“, kommentiert Mayr, „bekommen ‚normale‘ Kinder solche Briefe nicht.“

Die autobiografische Ausrichtung des Buches verweist aber auf ein Dilemma: Im Diskurs um Arbeitslosigkeit sprechen die Betroffenen selten selbst. Ihre „Sichtbarkeit“ ist auf sogenanntes Trash-TV begrenzt, das von „der Mitte“ für „die Mitte“ produziert wird. Es gibt wenig politische Interessenvertretung für Arbeitslose, wenige Gruppen, die öffentlich in Erscheinung treten und Forderungen stellen. Mayrs Stimme hat auch deshalb Gewicht, weil sie eben nicht arbeitslos ist. Die Autorin reflektiert diesen Mechanismus in ihrem Buch, nimmt ihn aber in Kauf. Das geht so lange gut, bis die Emotionalisierung ihrer Geschichte mehr Raum einnimmt als ihre Argumentation selbst. Das passiert ihr leider in einem Kapitel, in dem sie die ihrer Meinung nach verheerende Hartz-IV-Reform rekapituliert. Jedem Jahr der Reformentwicklung stellt sie einen kursiven Absatz aus ihrer eigenen Biografie entgegen, der keinen anderen Grund zu haben scheint als die Emotionalisierung der politischen Faktenlage.

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Die Elenden
„Die Elenden“ erschien bei Hanser Berlin und kostet 20 Euro

Mayr geht es in letzter Konsequenz nicht darum, Arbeitslosigkeit abzuschaffen, sondern den Umgang mit ihr zu verändern. Anstatt die Hartz-IV-Empfänger*innen zu verachten, sollten wir wütend werden, plädiert sie. Wütend darauf, dass nicht mehr Leistung zu Wohlstand führe, sondern nur Wohlstand zu mehr Wohlstand. Mayrs Traum: ein System, in dem alle, auch die ohne Arbeit, würdevoll leben können. Ein solches System, argumentiert sie, würde allen nutzen, weil es der kollektiven Angst vor dem Abstieg, der Sinnlosigkeit und der Armut etwas entgegensetzen würde. Für die Finanzierung sieht Mayr den Staat in der Pflicht, Einkommen gerechter zu besteuern und Unternehmen durch einen Bankdatenaustausch daran zu hindern, Steuern zu hinterziehen und ihre Gewinne am Fiskus vorbeizuschleusen.

Eine wichtige Gruppe vergisst Mayr in ihrem Buch 

Für die Größe ihrer Forderungen mangelt es Mayr aber leider an einer realpolitischen Einschätzung, die auf belegbaren Zahlen gründet. Dass Arbeitslosigkeit ein gesellschaftliches Problem ist, das auch aus einer Perspektive der Globalisierung betrachtet werden muss, bleibt bei ihr ebenso unerwähnt: Sie ergreift Partei für die Arbeitslosen und vergisst dabei die europäischen Arbeitsmigrant*innen, die den Niedriglohnsektor in Deutschland ausmachen.

Trotzdem ist Mayrs Forderung nach mehr finanziellen Mitteln gegen eine Verelendung ganzer Bevölkerungsgruppen so relevant wie lange nicht. Arme Menschen brauchen keine Bildung oder Chancen, sondern Geld, heißt es an einer Stelle ihres Buches. Und tatsächlich hat die Corona-Krise gezeigt, dass Kinder aus armen Familien häufig gar nicht die Lebensbedingungen vorfinden, um überhaupt am digitalen Schulunterricht teilnehmen zu können. Neben den abstrakten Forderungen Mayrs findet sich am Ende von „Die Elenden“ deshalb immerhin auch eine sehr konkrete: Der Hartz-IV-Satz solle von 432 Euro pro Person auf 764 Euro steigen. 

Titelbild: Gordon Welters / laif

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