Hierzulande galten Comics lange als Kinderkram. In Deutschland waren eher die Lustigen Taschenbücher bekannt und weniger Werke wie „Maus“, Art Spiegelmans preisgekrönte Geschichte über den Holocaust. Etwas derart Entsetzliches wie die Naziverbrechen schien vielen zunächst schwer vereinbar mit gezeichneten Bildern. Muss es nicht. Das zeigt "Das Tagebuch der Anne Frank", das gerade als Graphic Novel erschien.
Gezeichnet haben es David Polonsky und Ari Folman. Bekannt wurden sie durch ihren dokumentarischen Animationsfilm „Waltz with Bashir“, der die Schrecken des ersten Libanonkriegs thematisiert. Polonsky wurde 1973 in Kiew geboren, Folman 1962 in Haifa als Sohn polnischer Holocaust-Überlebender.
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Bei der Adaption des Tagebuchs, das die in Frankfurt am Main geborene Anne Frank 1942 im Exil in Amsterdam zu schreiben begann, balanciert das Duo auf dem schmalen Grat zwischen Werktreue und künstlerischer Freiheit. Die Figuren sind weich, beinahe kindlich gezeichnet, die Farben leuchten. Der Text wurde kaum verändert, dafür die Handlung ordentlich gestrafft. Überwiegend wird sie in der typischen Kastenstruktur wiedergegeben, auf manchen Seiten auch als durchlaufender Text.
Für wiederkehrende Themen wie Annes Selbstzweifel oder der Vergleich mit ihrer vermeintlich perfekten Schwester reicht eine Doppelseite: Links Anne in Gestalt von Edvard Munchs „Schrei“, der Sätze wie „Musst du immer so angeben?“ und „Margot würde das niemals machen!“ um die Ohren fliegen, rechts eine Karikatur von Klimts Porträt von Adele Bloch-Bauer, deren äußere Erscheinung – würdevolle Haltung, ordentlich gekämmtes Haar – auf die ältere Schwester übergegangen ist. Der ständige Hunger führt zu Annes obsessiver Beschäftigung mit Essen und drückt sich in grotesk verformten Rote-Bete-Knollen aus. Ihr Traum vom Schweizer Exil ist ein Kofferinhalt: „3 Sommerhemden, 4 Paar Kniestrümpfe, 2 Bettjäckchen, Bücher“.
Beeindruckend, wie präzise, poetisch und selbstreflexiv die gerade mal 14 Jahre alte Anne die Welt beschrieb. Eine Welt, die heranwachsenden Mädchen schon unter normalen Voraussetzungen nicht wohlgesonnen ist.
Schriftstellerin wollte Anne Frank werden oder Journalistin
Wie schlimm die Zumutungen der Pubertät für eine junge Frau sind, die keine Privatsphäre kennt, weil sie sich in einem winzigen Zimmer eines „melancholischen Hinterhauses“ vor den Nazis verstecken muss – mit einem Zahnarzt, den Anne abschätzig „Albert Dussel“ nennt –, können die Leser heute nur erahnen. Im Buch wird das in der Prinsengracht 263 gelegene Haus, das der Familie gut zwei Jahre als Versteck diente, einmal als Schneekugel dargestellt: „Miete: gratis“.
Ironie und bitterer Humor mögen bei einem ernsten Thema wie dem Holocaust irritierend wirken, dabei hat sich doch gerade in der Aufarbeitung der Nazizeit das Lachen oft bewährt, wie Filme wie „Das Leben ist schön“ zeigen.
Der Enge der Wohnung und andauernder Gefahr zum Trotz hat Anne Frank auch romantische Tagträume
Schriftstellerin wollte Anne Frank werden oder Journalistin. Folman und Polonsky zeichnen sie als schöne, erwachsene Frau mit Lesebrille vor einer Wand mit „New York Times“- und „Le Figaro“-Titelseiten. Aus ihr, die ihre Periode als „süßes Geheimnis“ betrachtet und sich fragt, warum Frauen den Mund halten sollen, hätte auch eine Bilderbuchfeministin werden können.
Folman und Polonsky finden dafür starke Bilder. Einmal gibt die Comic-Anne ihrem Schwarm Nachhilfe in weiblicher Anatomie, als Zeigestock haltende Biologielehrerin. Ein anderes Mal sehen wir eine lange Reihe am Boden kauernder Frauen, aus deren Unterleib Babys krabbeln, die erst zu Jungen, dann zu Soldaten werden.
Am 1. August 1944 endet das Tagebuch
Den Anstoß zu dem Projekt gab der Anne Frank Fonds in Basel, gegründet von ihrem Vater Otto, der als Einziger der Familie den Holocaust überlebte. Der Fonds hält die Rechte an den Tagebüchern, die Originalmanuskripte sind im Anne-Frank-Haus in Amsterdam zu sehen. 2020 soll ein Animationsfilm in die Kinos kommen.
Nicht ganz klar wird, wer genau die Zielgruppe dieses Comics sein soll. Erwachsene, deren Schullektüre aufgefrischt werden soll, oder Digital Natives, die das Original vielleicht nicht kennen? Beide jedenfalls werden routiniert an das Tagebuch herangeführt, das ein Stück Weltliteratur geworden ist und am 1. August 1944 endet. Drei Tage später wurde Anne Frank verhaftet und kurz darauf mit ihrer Familie ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Sie starb im Frühjahr 1945 im KZ Bergen-Belsen.
„Das Tagebuch der Anne Frank“ von Ari Folman und David Polonsky, 160 Seiten, S. Fischer, 20 Euro