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Die sind ja genauso langweilig wie ich!

Die neue Social-Media-App BeReal verspricht, uns aus den Klauen der ständigen Selbstinszenierung zu befreien. Klappt das?

BeReal

Nach knapp 15 Jahren Social Media hält sich meine Aufregung in Grenzen, wenn eine neue Plattform von sich reden macht. Zu oft habe ich sie scheitern sehen: Google+, Ello, Clubhouse, Mastodon [Anm.d.Red: Plottwist! Seit dem Kauf Twitters durch Elon Musk Ende Oktober verzeichnet Mastodon einen großen Followerzuwachs durch jene, die jetzt eine Alternative zu Twitter suchen – und gehört damit eigentlich nicht (mehr) in die Aufzählung verwaister Plattformen]. Auch bei der neuen App BeReal bin ich anfangs überzeugt, dass wir sie schnell wieder vergessen. Mehr um mich zu vergewissern, installiere ich sie – und werde überrascht.

Das Konzept von BeReal: Die Nutzer*innen bekommen einmal täglich eine Push-Benachrichtigung – alle zur selben Uhrzeit, aber jeden Tag zu einer anderen. Die Nachricht fordert mich auf, innerhalb von zwei Minuten die Aktivität zu dokumentieren, der ich gerade nachgehe, egal, ob ich auf dem Klo sitze oder Achterbahn fahre. Die App schießt dafür gleichzeitig mit beiden Kameras ein Foto – hinten und vorne – und lädt sie in den Feed. Die Beiträge meiner Freund*innen sehe ich erst, wenn ich mein „BeReal“ selbst hochgeladen habe. Dann kann ich mit sogenannten RealMojis – das sind kleine Fotos, die man von sich aufnimmt – oder Kommentaren auf sie reagieren. Die Bilder verschwinden wieder aus der App, sobald am nächsten Tag die Push-Meldung kommt.

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BeReal
Für geschätzte 98 Prozent aller Großstadtmenschen ist der Ausblick unserer Autorin relatable: Innenhofausblick, nasse Eierschale

Die Idee kommt ausnahmsweise mal nicht aus dem Silicon Valley, sondern aus Paris. Der Franzose Alexis Barreyat, der zuvor bei der Video-Hardwarefirma GoPro gearbeitet hat, veröffentlichte BeReal im Jahr 2020. Die App hat inzwischen mehr als 73,5 Millionen aktive User im Monat. Das klingt im Vergleich zu Facebook (gut 2,9 Milliarden) oder Instagram (etwa 1,5 Milliarden) zwar mickrig – dafür ist die Wachstumsgeschwindigkeit aktuell noch relativ hoch. Bislang ist die App kosten- und werbefrei und finanziert sich durch Risikokapitalgeber, die darauf pokern, bei einem langfristigen Erfolg eine saftige Rendite abzugreifen. Wie BeReal langfristig Umsatz machen möchte, ist unklar – eine Finanzierung durch Werbung schließt die Firma jedenfalls bisher aus.

Perfekt für die Generation FOMO

BeReal gilt als „Anti-Instagram“ und will eine authentischere und weniger suchtgefährdende Alternative sein, um mit den eigenen Freund*innen digital in Kontakt zu bleiben. Damit eignet sich die App theoretisch perfekt für eine Generation, die einerseits müde scheint von der ständigen Selbstinszenierung und andererseits Angst hat, etwas zu verpassen. Für beide Probleme verspricht BeReal eine Lösung: digitaler Austausch, aber ohne Inszenierung. Geht das?

Im Internet gelten wir als authentisch, wenn wir es schaffen, ein glaubhaftes Bild von uns zu zeichnen. Dabei müssen wir nicht fehlerfrei wirken – das wäre sogar kontraproduktiv. Wir inszenieren auch (kleine) Unvollkommenheiten, das macht uns relatable. Die wirklich unangenehmen Themen verkneifen wir uns dann aber meist doch lieber – das ist wichtig, damit wir uns in einem allgemein positiven Licht darstellen. Die einen machen das ganz bewusst – Stichwort Facetune –, die anderen eher unbewusst, indem sie zum Beispiel nischige Memes teilen oder ihren besonderen Musikgeschmack in Insta-Storys zur Schau stellen. So oder so: Dem Druck zur Selbstverortung entkommt man online normalerweise nicht.

BeReal möchte das ändern, indem die App uns kalt erwischt. Die Aufforderung, Fotos zu schießen, kommt jeden Tag zu einer anderen Zeit. Wir haben also theoretisch kaum eine Chance, uns ein Motiv zurechtzulegen, mithilfe dessen wir besonders witzig, sexy oder cool wirken. Aber es gibt einen Haken, denn BeReal bietet auch die Option, ein (als solches gekennzeichnetes) „Late BeReal“ zu posten, sich also über den Zeitpunkt der Push-Benachrichtigung hinwegzusetzen und zu einem anderen Zeitpunkt Fotos aufzunehmen. In meiner ersten Woche mit der App frustriert mich diese Tatsache enorm, und ich bin kurz davor, sie wieder zu löschen. Denn natürlich wirken die Leben meiner Freund*innen mal wieder viel interessanter als meines. Ich sehe Fotos aus Bars, von Stränden im Urlaub, bei Konzerten.

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BeReal
Krümel aus dem Mundwinkel wischen, wenn dieses Pop-up im Sperrbildschirm erscheint

Das ändert sich ein bisschen, als der erste Hype verklungen ist und alle weniger bereit zu sein scheinen, mit dem Schießen des Fotos auf den aufregendsten Moment des Tages zu warten. Immer mehr Bilder von Menschen vor Laptops, in chaotischen Zimmern oder beim Zähneputzen trudeln in meiner App ein, immer öfter pünktlich. Und ich verspüre eine angenehme Erleichterung: Die sind ja genauso langweilig wie ich! Das fühlt sich zumindest an wie ein Schritt in eine richtige Richtung – auch wenn wir trotzdem zusehen, dass wir auf dem Selfie einen guten Winkel erwischen, und versuchen, den Klamottenberg in der Ecke nicht im Bild zu haben.

Aber auch in dieser App macht sich wieder Druck breit – in bisher unbekannter Form. In Woche zwei liege ich an einem Strand in Portugal und hoffe, die Push-Benachrichtigung möge doch bitte genau jetzt kommen. Ich erwische mich auch bei dem Gedanken, besser mal duschen zu gehen, weil ja bald BeReal-Zeit sein könnte. Aber auch das legt sich mit der Zeit, und in Woche drei poste ich vier Bilder in Folge aus meinem Bett – und fühle mich nur noch ein bisschen schlecht dabei. Es ist wie ein kollektiver Entzug von der bisherigen Social-Media-Logik: Erst nach und nach kommt in unseren Köpfen an, dass es hier wirklich erlaubt ist und sogar irgendwie verlangt wird, belanglos zu sein. 

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BeReal
Schon rein rechnerisch erwischt einen BeReal besonders häufig während der Arbeit und beim Online-Shopping

BeReal fühlt sich für mich persönlich auch deswegen gesünder an als Instagram oder TikTok, weil ich dort nur ein paar Minuten verbringen kann, bis mir langweilig wird: Im Feed mit den Bildern meiner Freund*innen kann ich nicht in die Unendlichkeit scrollen, und niemand möchte mir etwas verkaufen. Ich fange an, mich zu fragen, wie lange das wohl so bleiben wird – bisher hat doch noch jede Plattform so ihren Zauber verloren.

Die Angst vor dem Infinite Scroll

Eine Möglichkeit wäre die „Discovery“-Funktion: Dort bekommt man in einem separaten Feed unsortiert BeReal-Fotos von Menschen aus der ganzen Welt angezeigt, die dafür die Erlaubnis gegeben haben. Und da sind sie dann doch wieder: der infinite scroll und die Möglichkeit, sich einem großen Publikum zu präsentieren. Vielleicht wird das das Schlupfloch, durch das sich künftig doch wieder Influencer*innen und Marken ihren Weg in unsere Smartphones bahnen.

Auch das Thema Datenschutz wird hier besonders relevant, denn manche Menschen – viele sehr jung – teilen nicht nur ihre Fotos öffentlich, sondern ihre exakten Standorte gleich mit. Ganz zu schweigen von den Gesichtern fremder Menschen, die hier wahrscheinlich oft ohne deren Erlaubnis gepostet werden. In die App sind außerdem Analysetools eingebunden, das heißt: Daten werden an Dritte weitergeleitet. Und obwohl es sich um eine europäische Firma handelt, landen Kontaktdaten auf Servern in den USA – wo die Datenschutzgesetze sehr viel laxer sind als in der EU.

Gleichzeitig beginnen Firmen – genauer: Meta und ByteDance, die Firma hinter TikTok –, sich ziemlich schamlos bei der Idee zu bedienen. Eine durchaus gängige Praxis, im Fall von Instagram ist das schon in Form der Story-Funktion (von Snapchat abgekupfert) oder Reels (von TikTok inspiriert) geschehen. Aber diesmal war TikTok schneller als Instagram: Mitte September wurde ein neues Feature namens „TikTok Now“ eingeführt, das eine beinahe exakte Kopie von BeReal ist – als eigenständige App und zusätzlich als Funktion in der TikTok-App selbst. Im Gegensatz zu BeReal macht TikTok zeitweise aggressiv Werbung für die neue App: Gibt man im AppStore etwa „BeReal“ ein, erscheint in den ersten Wochen als Erstes Werbung für TikTok Now. 

Auch Instagram kopiert das BeReal-Prinzip bereits 

Zeitgleich testet auch Instagram eine neue Funktion namens „Candid Challenges“. Auch sie imitiert BeReal und teilt die geschossenen Fotos dann in der Insta-Story. In der BeReal-Firmenzentrale in Paris kommen Alexis Barreyat und seine Handvoll Angestellten also vermutlich gerade ins Schwitzen – ob die App dem Konkurrenzdruck durch die Tech-Riesen standhalten kann, wird sich vermutlich bald zeigen.

Aber egal, wie es mit BeReal weitergeht: Der Erfolg der App zeigt recht eindeutig, dass sich viele nach mehr Echtheit und weniger Kommerz auf Social-Media-Plattformen sehnen. Solange BeReal sich diese Eigenschaften bewahren kann, werde wohl auch ich dabeibleiben und mir einmal täglich Mühe geben, mich nicht zu verstellen. Vorausgesetzt, die Raufasertapeten meiner Freund*innen langweilen mich nicht doch irgendwann zu sehr.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.