So richtig kapiert hatte ich damals nicht, was auf diesem Zettel stand. Da mir nun aber die Erwachsenen den Kopf tätschelten, schien halbwegs sensationell zu sein, was auf dem Jahreszeugnis der Klasse 1 a meiner Grundschule in Kaiserslautern zu lesen war: „Christian mußte infolge Krankheit beinahe drei Monate dem Unterricht fernbleiben. Umso erstaunlicher ist es, wie schnell er das Versäumte nachgeholt hat. Mit viel Fleiß und Ausdauer hat er den Anschluß an die Klasse erreicht.“ Nach einem Eingriff an den Mandeln war es bei mir zu Nachblutungen und acht Notoperationen gekommen. Zwölf Wochen Todesangst. Und doch legte die Zeit auf der Kinderstation des Westpfalz-Klinikums die Grundlage dafür, dass ich jetzt überhaupt diesen Text schreiben kann.
Heute stehe ich mit Hochschuldiplom da, mein Bruder aber hat keine Berufsausbildung abgeschlossen
Denn mit dem Zeugnislob kam eine Gewissheit: Solange ich gut in der Schule sein würde, käme die Anerkennung von ganz allein. Da ich zuvor nie einen Kindergarten von innen gesehen und große Probleme in der Schule hatte, war das eine wichtige Lektion. Meine Lehrerin ließ mich nach dem ersten Schuljahr nicht sitzen – wahrscheinlich war dieses Szenario nicht, zumal ich in schwierigen Verhältnissen aufwuchs. Mein Vater war ungelernter Hilfsarbeiter, erhielt trotz Vollzeitmaloche zu wenig Geld und war zudem alkoholabhängig und gewalttätig. Meine Mutter war ebenfalls ungelernt. So blieb ihr nichts weiter, als den Mann in Schach zu halten und hauptberuflich die Kinder zu erziehen.
Über die Versetzung freute ich mich vor allem, weil fortan mein um ein Jahr älterer Bruder mit mir in dieselbe Klasse ging, er war sitzen geblieben. Heute stehe ich mit Hochschuldiplom da, er aber hat keine Berufsausbildung abgeschlossen.
Wäre alles normal gelaufen, wäre ich noch immer arm – an Einkommen sowieso, aber auch an bürgerlicher Bildung. Warum kam es anders? Unsere Familienerzählung besagt, dass mein Bruder zu wenig Ehrgeiz und Fleiß aufgebracht habe, ich aber zielstrebig und hartnäckig gewesen sei. Aber stimmt das?
Wie unser Autor als Arbeiterkind an der Universität erst einmal einen Kulturschock erlitt, lest ihr hier
Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder aus Akademikerhaushalten das Gymnasium besuchen, ist fast doppelt so hoch wie bei Nichtakademikerkindern. Von 100 Akademikerkindern nehmen 77 ein Universitätsstudium auf. Von 100 Nichtakademikerkindern tun das nur 23. Wer meint, der Zugang zu Abitur und Uni ließe sich vor allem mit individuellem Ehrgeiz und Fleiß erklären, der behauptet angesichts solcher Zahlen etwas Ungeheuerliches – dass nämlich Menschen aus Nichtakademikerhaushalten entweder von Natur aus weniger ehrgeizig und fleißig als Menschen mit Akademikerhintergrund sind oder eben Opfer einer „falschen“ Erziehung. In Wahrheit ist es, wie immer, komplizierter.
Dafür bin ich das beste Beispiel. Heute liest sich mein Lebenslauf, als wäre alles auf eine steile Bildungskarriere hinausgelaufen. Wer die biografischen Brüche erkennen will, muss schon genau hinsehen. Als ich vor Jahren zu einem Vorstellungsgespräch für ein Volontariat bei einer Tageszeitung eingeladen war, hatte ich es mit jemandem zu tun, der genau hinsah. Wieso ich die Regelstudienzeit überschritten hätte, obwohl nicht mal ein Auslandsaufenthalt verzeichnet sei? Weshalb ich so wenige Praktika absolviert hätte, und dann nicht mal was Überregionales? Warum ich nicht den Studienort gewechselt hätte? Tja. Dank finanzstarker und „bildungsnaher“ Eltern konnte die Konkurrenz unbezahlte Praktika in Hamburg annehmen, in England studieren und für mickrige Honorare ihr Portfolio mit Artikeln füllen. Für mich wurde es mit dem Traumberuf zunächst nichts. Es hagelte Absagen.
Je mehr Zeit ins Land ging, umso klarer wurde mir, dass die Idee, man könne sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen, aus gutem Grund eine Geschichte des Lügenbarons Münchhausen ist. Es braucht Hilfe.
In meinem Fall gab es sie in der Familie. Meine Mutter las gern meine guten Aufsätze. Um mich zum Lesen zu animieren, erfand sie Tricks. Als ich sie im Alter von acht Jahren fragte, was sie sich zu ihrem Geburtstag von mir wünsche, bat sie mich, ihr Lieblingskinderbuch zu lesen und an ihrem Jubeltag darüber zu sprechen. Meinen Bruder überließ sie dem Fernseher. Kurz darauf saßen wir mit unserem Großvater im Biergarten. Beim Weizenbier sprach er von seiner Erwartung, dass aus uns mal „was Richtiges“ werde. Zu meinem Bruder sagte er: „Du gehst später mal auf den Bau“, zu mir sagte er: „Du gehst mal aufs Büro.“ Lehrerinnen nannten mich „Musterschüler“, an meinem Bruder priesen sie auf Nachfrage allenfalls sein „gutes Benehmen“.
Bildung ist auch keine Gewähr, aber sie ist der sicherste Weg, Armut zu entkommen
Seine Noten blieben mittelmäßig, meine wurden besser. Nach der vierten Klasse erhielt ich eine Gymnasialempfehlung, er nicht. Zwischenzeitlich war meine Mutter an Krebs gestorben, darum schwang nun meine Tante das Zepter. Sie wollte mich auf einem Gymnasium unterbringen, es nahm mich jedoch keines auf. Also besuchten mein Bruder und ich dieselbe Klasse einer Gesamtschule.
Ich wurde zum „Streber“, mein Bruder zu einem bei Mitschülern beliebten Regelbrecher. Immer wieder versprachen mir Lehrer, die „Streber“ von heute seien die Glücklichen von morgen. Und die institutionellen und familiären Helferlein werkelten für mich weiter. Meine ersten Zeitungsartikel etwa schrieb ich nicht, weil ich mich beworben hatte. Nein, meine Tante erfuhr von meinem geheimen Wunsch, rief bei der Lokalredaktion an und bequatschte den Sportredakteur so lange, bis er mir einen Auftrag erteilte.
Am Ende wurde ich doch noch hauptberuflicher Journalist. Nach all den Absagen hatte ich drei Jahre lang in der Wissenschaft gearbeitet, gewartet, gehofft, vor allem aber: Kontakte geknüpft. Ein Studium bietet heute eben auch keine Gewähr mehr für ein Leben ohne Armut. Dennoch glaube ich, dass Bildung der sicherste Weg ist, ihr zu entkommen. Sie öffnet einem oft die Tür – wenn auch manchmal erst im zweiten Anlauf.