Es ist 1987, und Sascha ist am Hörer. Im Hintergrund plappern ihre Töchter, seine Nichten. Sie sind acht und zehn Jahre alt, Stepan hat sie noch nie gesehen.
Als die Truppen des Warschauer Paktes den Prager Frühling 1968 gewaltsam beendeten und Stepan Benda zur Armee sollte, entschied er sich, die Tschechoslowakei zu verlassen. Er floh über die österreichische Grenze, zu Fuß bis nach Berlin, immer in der Gewissheit, seine Schwester Sascha nie wiederzusehen.
In Westberlin findet Stepan ein Leben in Freiheit. Er besucht Kneipen, umgibt sich mit anderen Geflüchteten, genießt die Reisefreiheit beim Tennis in den USA oder auf den Filmfestspielen in Cannes – und engagiert sich politisch. Stepan übersetzt Literatur ins Tschechische, die dort verboten ist. Er wird bespitzelt. „Wenn Sie in der DDR verhaftet werden“, sagt man ihm beim Berliner Senat, „wird man Sie an die Tschechoslowakei ausliefern, und Sie landen im Gefängnis.“
Das Transitabkommen von 1971 sollte den Verkehr zwischen Westberlin und BRD erleichtern. Die Kontrollen an den Grenzen wurden gelockert und selbst DDR-Flüchtlinge konnten sich nach kurzer Sperrfrist frei auf den Transitstrecken bewegen: Wer bei seiner Flucht niemandem geschadet hatte, wurde nicht verfolgt.
Gereist ist Stepan deswegen von Westberlin aus immer nur mit dem Flugzeug – also über und nicht durch die DDR. Nun, im Winter 1977, hat er von der Deutschen Post einen gelben VW Käfer ersteigert. Er will nach Venedig zur Biennale del dissenso culturale. Sechs Jahre nach dem Transitabkommen wagt sich Stepan zum ersten Mal auf die Transitstrecke. Die Reise verläuft ruhig. Das Abkommen schützt Stepan vor willkürlichen Kontrollen, vor dem Zugriff der DDR.
Den Sozialismus vermisst Stepan nicht, seine Familie dafür umso mehr. Wieder und wieder beantragt er Besuchserlaubnisse für Sascha. Keinem Antrag wird stattgegeben, die tschechischen Behörden verwehren ihr die Ausreise nach Westberlin.
Saschas Stimme klingt so nah. Die Behörden, sagt sie, hätten ihnen einen Badeurlaub auf Rügen genehmigt. „Fahr über den Berliner Ring“, sagt Stepan. „Wir treffen uns an der Raststätte Michendorf.“ Es knackt in der Leitung.
Am Kontrollpunkt wurde den Reisenden bei der Einreise in die DDR ein Transitvisum ausgestellt. Den Bürgern garantierte es die einmalige Durchreise, dem Staat half es, verdächtig lange Aufenthaltszeiten auf der Transitstrecke zu erfassen, die auf mögliche unerlaubte Kontakte zu DDR-Bürgern hindeuteten.
Eine gute Stunde haben sie zusammen in Michendorf. Mehr geht nicht, wenn sie an der Grenze nicht auffallen wollen. Geschenke gibt es keine, Übergaben sind verboten, die Stasi sitzt quasi mit am Tisch. Dafür kann Stepan seine Nichten nach Jahren endlich in die Arme nehmen. Ab diesem Tag fährt er regelmäßig über die Transitautobahn. Angst hat er auf jeder Fahrt. Aber so stark wie beim ersten Mal, auf dem Weg nach Venedig, im gelben Käfer der Deutschen Post, war sie nie wieder.
Titelbild: ZDFinfo