Es ist der 14. Oktober 1972 und Peter Bieber trägt Handschellen. Er ist starr und panisch zugleich. Starr, weil es nichts gibt, was er tun kann. Panisch, weil Bieber zum Verhör geführt wird. Er wird nicht in seine Westberliner Wohnung zurückkehren, nicht sein Jurastudium beenden und stattdessen die nächsten Jahre in einer Zelle verbringen. Man hat Bieber der Fluchthilfe angeklagt. Alles abzustreiten ist sinnlos, die Stasi verfolgt Bieber seit der Raststätte Magdeburger Börde. Dort stieg der DDR-Flüchtling in Biebers Auto.
Die Stasi stoppt sie am Westberliner Grenzübergang Dreilinden-Drewitz. Mit Biebers Schlüssel verschaffen sich die Beamten Zutritt zu seiner Wohnung, dort finden sie Beweise für weitere Straftaten: Zehn Menschen hat Bieber in den vergangenen Monaten bei der Flucht in den Westen geholfen, wohin er nach mehreren Versuchen selbst geflohen war: Von einer Hochzeit wollte Bieber per Anhalter zurück. Er stieg bei einem westdeutschen Lkw-Fahrer zu, was streng verboten war, und erzählte ihm von seinem unbedingten Wunsch, die DDR zu verlassen.
Aus Sorge, Bieber könne ein Stasi-Informant sein, sagte der LKW-Fahrer: „Angenommen, ich sage dir Hilfe zu; dann gehst du hier raus, und fünf Minuten später kommen zwei Herren von der Stasi und fordern mich auf, sie zu begleiten.“ Bieber entgegnete: „Angenommen, ich nehme Ihre Hilfe jetzt an. Wenn ich danach auf die Straße gehe, stehen da zwei Herren und verhaften mich.“ Beide könnten den jeweils anderen nach diesem Gespräch ins Gefängnis bringen. Sie entschließen sich, einander zu trauen.
Im April 1970 fährt der Lkw-Fahrer einen Möbeltransport über die Transitstrecke in den Westen. In einem Schrank sitzt Bieber. Als er im Westen von der Ladefläche krabbelt, kommen ihm die Tränen.
Um das Glück der neuen Freiheit zu teilen, will Bieber anderen bei der Flucht helfen. Mit dem Transitabkommen von 1972 kann er sich frei auf den Transitstrecken bewegen. Bieber überredet auch den Lkw-Fahrer. Sie bauen einen Bitumen-Lkw und einen alten Druckbehälter zu Verstecken um und treffen die Flüchtigen auf Rastplätzen an der Autobahn, wo sie unbemerkt in den Lkw umsteigen können. Vier Fahrten gehen gut. Bieber ahnt, dass es nicht ewig so weitergeht, aber er ist zu großmütig, um aufzuhören: Er bringt Familien zusammen, die die Mauer getrennt hat.
„Die DDR hat meine Strafe damals extra hoch angesetzt“, sagt Bieber, den die BRD freikaufte. „Das waren die echten Menschenhändler.“
So auch am 14. Oktober 1972. Die Nacht von Biebers fünfter Fluchtfahrt ist schwarz, die Straßen sind leer, nur einer von zwei Flüchtigen erscheint zur verabredeten Zeit an der Raststätte Magdeburger Börde. Auf dem Weg Richtung Grenze bemerkt Bieber im Rückspiegel zum ersten Mal das Auto mit Westkennzeichen. Es fährt eine Weile hinter ihnen her. Bieber aber folgt dem Plan. Bis er am Grenzpunkt aus der Schlange gewunken wird…
Fast 50 Jahre später: der Autor Peter Bieber (Foto: privat)
14 Monate verbringt Bieber im Stasi-Gefängnis in Pankow, Ostberlin. In einer Zelle ohne Fenster. Und auf einem kleinen Hof ohne Ausblick, den er einmal die Woche betreten darf. In einem Schauprozess wird Bieber verurteilt: staatsfeindlicher Menschenhandel und Republikflucht, macht zehn Jahre Haft.
Nach fünf Jahren in der JVA Brandenburg an der Havel kauft die Bundesrepublik Bieber frei – für 50.000 DM. Die DDR hätte die Strafen extra hoch angesetzt, sagt Bieber heute, um die Preise für den Freikauf hochzutreiben. „Das waren die echten Menschenhändler.“
Weitere Geschichten von politischen Häftlingen in der DDR findet ihr im Zeitzeugenbüro. Das Titelbild stammt aus der ZDFinfo-Doku „Mythos Autobahn“.