„Nummer zwei!“, ruft Andreas Wallbaum den vier Wartenden zu, die ein paar Reihen weiter auf den Bierbänken Platz genommen haben und die Zeit am Handy überbrücken. Stefan Garcia*, ein freundlicher bebrillter Mann setzt sich gegenüber von Wallbaum an den Biertisch und breitet einen Stapel Dokumente aus. Beim Sprechen überschlägt er sich, er hat heute gleich mehrere Fragen mitgebracht. Er will wissen, ob er als arbeitsloser Freelancer ein Anrecht auf die Weiterbildung hat – die ihm beim letzten Jobcenter-Termin versagt wurde. Das sei nicht falsch, setzt Wallbaum an, aber auch nicht die ganze Wahrheit. Eine klassische Jobcenter-Situation, wie sich im weiteren Verlauf des Nachmittags herausstellen wird.
Jeden Dienstag ab 13 Uhr berät Wallbaum im Südblock, einer Bar am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg, ehrenamtlich Menschen, die als arbeitsuchend gemeldet sind. Die Bierbänke, auf denen sonst Leute draußen sitzen und Hefeweizen trinken, sind jetzt auf der Tanzfläche im Innenraum aufgereiht. In der Luft hängt der Geruch von Reinigungsmittel, um diese Uhrzeit werden die Toiletten geputzt. Ein Dutzend Diskokugeln reflektieren fahles Licht.
Wie jeden Dienstag bekommt Wallbaum, der klare Vorstellungen hat und genaue Formulierungen findet, eine große Apfelschorle und einen Kaffee serviert. Das, was Bundesarbeitsminister Hubertus Heil die „größte Sozialreform seit 20 Jahren“ nennt, ist für ihn eine „Selbstbeweihräucherung der Regierung“. Echte Verbesserungen sieht er bisher nicht. „Entscheidungen im Sozialbereich sind meist Ermessenssache – also vor allem davon abhängig, wer dir im Jobcenter gegenübersitzt.“ Es müsste mehr „klientenzentriert“ gearbeitet werden, sagt er.
Gesetzlich ist seit Januar, als das neue Bürgergeld das alte Arbeitslosengeld II – auch als Hartz IV bekannt – ablöste, eine Reihe von Neuerungen in Kraft getreten. Neben höheren Regelsätzen, durch die alleinstehende Erwachsene monatlich etwa 53 Euro mehr bekommen, entfällt beispielsweise der sogenannte „Vermittlungsvorrang in Arbeit“ – was grob bedeutet, dass Erwerbslose nicht länger in nächstbeste (Aushilfs-)Jobs vermittelt werden können. Stattdessen sollen Fortbildungen und langfristige Anstellungsverhältnisse in den Vordergrund rücken. Dafür gibt es unter anderem ein Weiterbildungsgeld in Höhe von monatlich 150 Euro für die Teilnahme an abschlussbezogenen Weiterbildungen.
Ein Anspruch auf Weiterbildung sei das trotzdem nicht, sagt Wallbaum: Zwar könnten Erwerbslose nun nicht länger zum „Regaleeinräumen“ geschickt werden – das Problem sei jedoch seiner Erfahrung nach, dass das Jobcenter je nach Vorgaben nur ganz bestimmte Fortbildungen vorschlägt. „EmpfängerInnen haben klare Vorstellungen von ihren Weiterbildungen, sitzen aber immer noch vor Leuten, die sagen: ‚Das wird jetzt nichts.‘“
Um etwas zu bewegen, meint Wallbaum, müsse man die Jobcenter-Belegschaft reformieren
Ebenso gibt es seit diesem Jahr höhere Schonvermögen – das bedeutet, dass Arbeitsuchende durch großzügigere Vermögensprüfungen mehr von ihrem Ersparten behalten dürfen, vor allem während der sogenannten „Karenzzeit“: In den ersten zwölf Monaten Bürgergeld müssen alleinstehende Erwachsene erst an das eigene Vermögen ran, wenn es über 40.000 Euro beträgt.
Zudem wurden die Zuverdienstgrenzen erhöht. Von einem Einkommen bis zu 100 Euro muss man wie bisher gar nichts abgeben. Ab dem 1. Juli 2023 wird der Freibetrag für Einkommen zwischen 520 Euro und 1.000 Euro auf 30 Prozent des erzielten Einkommens erhöht, zwischen 100 Euro und 520 Euro bleibt es bei 20 Prozent. Auch SchülerInnen, deren Eltern beim Jobcenter arbeitsuchend gemeldet sind, können ab Juli zum Beispiel außerhalb der Ferien bis zu 520 Euro monatlich verdienen, ohne dass das Bürgergeld gekürzt wird. Bisher durften sie davon nur 184 Euro behalten. Das findet Wallbaum grundsätzlich gut. Doch er bezweifelt, dass rein gesetzliche Änderungen wirklich frischen Wind ins staubige Amt bringen. Um tatsächlich etwas zu bewegen, meint er, müsse man auch die Belegschaft reformieren. Dass also die Mitarbeitenden im Jobcenter denen, die vor ihnen sitzen, auch wirklich vorurteilsfrei begegnen und sich für ihre Rechte einsetzen. Denn das erlebte Wallbaum selbst und erleben jetzt die, die er berät, nicht immer so.
Auf das neue Bürgergeld angesprochen, guckt Stefan Garcia nur fragend durch seine Brillengläser. „Es reicht sowieso vorne und hinten nicht, die 53 Euro mehr habe ich überhaupt nicht bemerkt“, sagt er, als er von der Bühne tritt und seine Jacke anzieht. Es habe sich herausgestellt, dass seine Weiterbildung möglich sei, wenn er sich als Freelancer in Teilzeit erkläre – was das Jobcenter ihm nicht gesagt habe. Er solle im Jobcenter „gerade und bestimmt“ bleiben, ruft ihm Wallbaum noch hinterher. Eine gestresst wirkende Frau mit kurzen roten Locken steht da schon am Tisch.
Seit 2004 berät Wallbaum Menschen, die zum Jobcenter müssen. Er geriet als Arbeitsloser einst selbst mit dem Amt aneinander. Nach einem gepfefferten Beschwerdebrief seinerseits saßen beim nächsten Termin plötzlich all seine Sachbearbeiter beisammen und baten ihn um Entschuldigung, erzählt er. Sie boten Wallbaum an, eine Schulung zu machen, um andere Arbeitsuchende zu beraten – er wüsste ja sowieso immer alles besser.
Wallbaum wurde also beim Arbeitslosenverband geschult, denn für das damals neue Arbeitslosengeld II sollte ein Beratungsangebot entstehen – „learning by doing“, wie er selbst sagt, denn außer dem frischen Gesetz gab es zu diesem Zeitpunkt keine festgelegten Vorgehensweisen. Für zwei Jahre war er Projektleiter, danach wurde die Beratung wegen fehlender Mittel eingestellt. Anstatt auf neue Gelder zu warten, machte er sich selbstständig: Er wollte als mobiler Berater weitermachen und schaffte sich dafür den „Roller“, eine Piaggio APE B 150, und alles Nötige selbst an.
Bis 2010 verdiente er damit einen schmalen Unterhalt, aufgestockt durch ALG II – 2011 wurde er verrentet, gründete den „Hartzer Roller e.V.“ und arbeitete fortan ehrenamtlich. Seine bescheidene Rente stockt seitdem das Sozialamt auf. Und die Beratung findet inzwischen nicht mehr mobil, sondern immer im Südblock statt.
Nach dem Gespräch mit Wallbaum berichtet die rothaarige Carola Bauer*: Seit der Covid-19-Pandemie sei die Naturwissenschaftlerin erwerbslos und komme regelmäßig in die Stunde. „Ich brauche Andreas, weil mir die ganze Kommunikation so unehrlich vorkommt“, sagt sie. Sie fühle sich vom Jobcenter gehetzt – die ständige Korrespondenz nehme ihr die Kapazität, sich selbst nach einem richtigen Job umzuschauen. „Für mich ist es immer noch dasselbe wie Hartz IV“, ruft sie beim Gehen.
„Für eine echte Reform hat die Institution Jobcenter das Vertrauen der BürgerInnen schon längst verspielt“, meint auch Wallbaum. Menschen, die sich sowieso schon in einer verletzlichen Lage befinden, müssten sich mit dem Dauervorwurf auseinandersetzen, dass sie ihr Leben nicht richtig lebten. Daran würde auch die Reform nichts ändern. Wie bei so vielen Dingen hat er auch für künftige Reformen genaue Vorstellungen: „Es wäre wichtig, dass man nur noch nachweisen muss, dass man arm ist, aber nicht, warum man arm ist.“
Bis dahin unterstützt er weiter Erwerbslose darin, nicht mehr vor dem Jobcenter „wegzurennen“, wie er es nennt – sondern stattdessen „stehen zu bleiben, um ihr gutes Recht einzufordern“.
* Namen geändert