Thema – Internet

Suchen Newsletter ABO Mediathek

„Eigentlich würde ich gern in einen Kegelverein eintreten“

Unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen erzählen auf Twitter Zehntausende ihre Geschichte. Wir haben bei drei Betroffenen genauer nachgefragt

  • 4 Min.
#armutsbetroffen

Es ist Ende März, als Florian vor dem Wandkalender in seiner Küche in einer Kleinstadt südlich von Berlin steht und zusammenfährt. Ihm wird bewusst, dass in ein paar Tagen der April beginnt. Im April hat seine Mutter Geburtstag. Er würde ihr gern etwas schenken, aber das gibt sein Konto nicht her: Florian lebt von Hartz IV. Unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen erzählte er auf Twitter wie Zehntausende andere von seiner Armut.

Den Hashtag ins Leben gerufen hat eine 39-jährige alleinerziehende Mutter. Unter dem Namen Finkulasa twitterte sie am 17. Mai dieses Jahres: „Hi, ich bin Anni, 39, und habe die Schnauze voll! Ich lebe von Hartz IV und es reicht ganz einfach nicht!“ Damit verbunden hatte sie den Aufruf, es ihr gleichzutun und vom Leben in Armut und den Ursachen dafür zu erzählen. Anni wollte mit Klischees und Vorurteilen aufräumen und der riesigen Zahl von mehr als 13 Millionen Betroffenen ein Gesicht geben – von denen viele auch Vollzeit arbeiten gehen und die trotzdem arm sind.

 

Lukas, 27, lebt in Lehrte/Hämelerwald bei Hannover und leidet an Clusterkopfschmerzen, die seinen Traumjob – Lkw-Fahren – verunmöglichen. Inzwischen hat er aber etwas anderes gefunden, wofür er brennt. Er ist zuversichtlich, mithilfe einer Umschulung aus dem Sozialhilfebezug rauszukommen.

Wenn alles gut geht, bin ich bald Digital Health Engineer. Das ist eine ziemlich neue Berufsgruppe, die Akteure im Gesundheitssystem dabei unterstützt, ihre Arbeitsprozesse zu digitalisieren. Ich könnte zum Beispiel Arztpraxen zeigen, wie sie ihre Patientenakten digitalisieren, E-Rezepte ausstellen, Telemedizin durchführen. Ich sehe mich aber am ehesten im Krankenhaus.


Mich von meinem Traumberuf zu verabschieden war hart. Aber meine größte Angst war, irgendwann wegen einer Kopfschmerzattacke beim Abbiegen mal ein Kind mitzunehmen. Als Clusterkopfschmerz-Patient einen Lkw zu steuern finde ich unverantwortlich. Die gehören zu den am stärksten empfundenen Kopfschmerzen überhaupt. Man muss sich das wie einen Kurzschluss im Gehirn vorstellen oder wie ein glühendes Eisen am Kopf. Mir tränen außerdem die Augen, und ich muss mich übergeben. Inzwischen habe ich die Krankheit aber ganz gut im Griff. Was hilft, ist reiner Sauerstoff. Neben meinem Schreibtisch steht eine große Flasche zum Inhalieren. Dass ich die Umschulung im Onlineunterricht von zu Hause aus machen kann, ist daher ein Riesenvorteil.

In einer Einzimmerwohnung von 32 Quadratmetern zu leben und zu lernen ist allerdings nicht immer leicht. Grundsätzlich bin ich aber eine Frohnatur und merke gerade, dass ich durch meine Situation Erfahrungen mache, die mir sonst fehlen würden. Die Solidarität durch den Hashtag ist der Wahnsinn. Fremde Menschen haben mir Hunderte Pakete geschickt mit Dingen, die ich auf meiner Amazon-Wunschliste hatte – Bettwäsche, ein elektrischer Rasierapparat, ein Minibackofen zum Beispiel. Und das Katzenfutter für Bagheera würde vier Jahre reichen. Einen Teil werde ich aber ans Tierheim spenden, weil es gar nicht so lange haltbar ist. Genauso gefreut wie die Geschenke haben mich die vielen persönlichen Nachrichten, die die Leute dazugeschrieben haben. Ich habe mir fest vorgenommen, in den Baumarkt zu gehen, Tapetenkleister zu kaufen und meine Zimmerdecke damit zu tapezieren. Es kommen bestimmt auch wieder andere Zeiten mit weniger Aufmerksamkeit und Anteilnahme. Wo man mit dem knappen Geld allein ist. Dann hilft das.

Florian, 33, wurde vor zwölf Jahren auf dem Heimweg von einer Party überfallen. Da steckte er gerade mitten in einem Praktikum bei der Müllabfuhr. Müllwerker ist auch heute noch sein Traumberuf. Aber seit dem Überfall sitzt er mit Panikattacken und Depressionen zu Hause und bezieht Hartz IV.

Eine Horde Menschen hat auf mich eingeschlagen, bis ich zu Boden gegangen bin. Sie haben nachgetreten, bis ich mich nicht mehr gerührt habe. In den ersten Jahren danach habe ich meine Wohnung gar nicht verlassen. Meine Eltern haben für mich eingekauft. Heute nehme ich immer meine Freundin mit, wenn ich zum Amt, zum Arzt oder in ein Geschäft muss. Mit ihr lebe ich in einer Kleinstadt südlich von Berlin.

Was mich an meiner Situation am meisten stresst, ist, dass ich meine Freundin quasi mit reinziehe. Denn ein Hartz-IVler bildet mit seiner Partnerin eine Bedarfsgemeinschaft. Für die Berechnung des Hartz-IV-Bedarfs wird ihr Einkommen komplett mit herangezogen. Sie arbeitet im Einzelhandel. Letztes Jahr hat sie Urlaubs- und Weihnachtsgeld bekommen. Das Anrechnen hat zu kräftigen Kürzungen geführt, letztlich blieb kaum was davon übrig. Das war richtig bitter und müsste in meinen Augen dringend geändert werden. Das belastet nicht nur den Geldbeutel, sondern – wenn’s blöd läuft – auch die Beziehung.

Bis zur Inflation kam ich mit dem Regelsatz im Großen und Ganzen klar, wenn ich nur das Nötigste gekauft habe. Was auf der Strecke bleibt, ist das Soziale. Ich bin aufgrund meiner Depression eh menschenscheu, deshalb macht es mir nicht so viel aus. Aber eigentlich würde ich gern in einen Kegelverein eintreten. Das wäre bei meiner finanziellen Situation definitiv nicht drin. Mit den Geburtstagsgeschenken läuft es bei uns seit Jahren so, dass mein jüngerer Bruder etwas besorgt und dann meinen Namen mit auf die Karte schreibt. Dieses Jahr haben wir unserer Mutter eine Teebox geschenkt. Als sie sich am Telefon dafür bedankt hat, habe ich mich geschämt.

In meiner Familie bin ich der Einzige ohne Arbeit. Mein Vater ist Handwerker, meine Mutter Näherin, und auch mein Bruder steht schon länger auf eigenen Beinen. Ob ich es eines Tages auch wieder schaffe, weiß ich gerade nicht. Ich habe schon mehrere Therapien hinter mir, gebracht haben sie bisher leider nicht so viel.

Luffy Lumen*, 31, lebt in einer Kleinstadt in Niedersachsen und möchte ihren bürgerlichen Namen geheim halten, weil ihre Situation ihr peinlich ist. Nach einer Corona-Erkrankung im Januar lebt die Auszubildende zur Pflegefachkraft mit ihren beiden Töchtern (4 und 8) und ihrem Partner vom Krankengeld.

Nach der Corona-Erkrankung bin ich einfach nicht mehr die Alte. Ich bin ständig müde und abgeschlagen, habe Gedächtnisprobleme und Wortfindungsstörungen, Arme und Beine schlafen mir ein, der Kopf dröhnt. Aber weil ich früher schon mal unter Depressionen gelitten habe, tun sich die Ärzte mit der Diagnostik schwer. Long Covid? Ja, nein, vielleicht …

Wir leben von 1.700 Euro im Monat – die 600 Euro Krankengeld stockt das Jobcenter mit 500 Euro auf. Dazu kommen noch 400 Euro Kindergeld und 200 Euro Unterhaltsvorschuss. Zwei Katzen zu haben ist da eigentlich Luxus. Aber vor allem meine Große braucht die beiden. Ihr Vater ist vor einiger Zeit völlig überraschend gestorben. Das hat sie in ihrer Entwicklung total zurückgeworfen. Sie ist inkontinent und hat ADS. Die speziellen Höschen und Einlagen und auch die Fahrten zu den Therapien kosten Geld, das wir eigentlich nicht haben. 



Als armutsbetroffen gilt in Deutschland, wer monatlich über weniger als 60 Prozent des mittleren Netto-Haushaltseinkommens verfügt. Das entspricht momentan einem Betrag von 1.148 Euro für Einzelpersonen und 1.721 Euro für Paare ohne Kinder. Abhängig von der Kinderzahl und deren Alter steigt die Armutsgrenze. Dem jüngsten Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zufolge sind derzeit 13,8 Millionen Menschen in Deutschland von Armut bedroht. Das entspricht 16,6 Prozent der Bevölkerung.

Dass ich bei alldem ein Auto besitze, wirkt bestimmt komisch. Aber ohne könnte ich meine Ausbildung nach Ende der Krankschreibung ganz vergessen. Wir leben in einer Kleinstadt, und das Seniorenheim, in dem ich meine Ausbildung eigentlich absolviere, liegt außerhalb im Nirgendwo. Wenn ich ab 6 Uhr Frühdienst habe, müsste ich am Vorabend den letzten Bus um 20 Uhr nehmen und auf der Arbeit übernachten, um rechtzeitig da zu sein.

Die Katzen und das Auto leisten wir uns also, obwohl sie uns finanziell wirklich an den Rand bringen. Erst mal aufgeben mussten mein Partner und ich den Traum von unserer Hochzeit. Feier und Reise sind eh nicht drin, aber auch der bürokratische Akt kostet ja Geld. Mein Partner und ich hatten 300 Euro zusammen, aber dann ging die Waschmaschine kaputt.

* Name von der Redaktion geändert

Illustration: Frank Höhne

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.