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Mit allem abschließen

Sie rauchten Gras oder waren in der Klinik, statt zur Schule zu gehen. An einem Bildungszentrum in Frankfurt am Main können ehemalige Drogenabhängige und psychisch Kranke ihre Abschlüsse nachholen

Abschluss

Damit mehr Zeit für Gratiskaffee und Gespräche bleibt, hat die Schulleitung dauerhaft einen offenen Anfang in den Schultag eingeführt. Es ist Dienstagvormittag, acht Uhr. Im Schulcafé gurgelt die Kaffeemaschine, und die ersten Schüler:innen und Lehrer:innen treffen auf dem Hof ein.

Manche haben einen weiten Weg mit Regionalbahnen hinter sich, andere leben in einer Wohngruppe im Nebengebäude und müssen nur die Treppe runter. Alle duzen sich. Selbst der Schulleiter, der gerade mit seinem Motorrad in die Einfahrt biegt, ist nur Janosch.

Das Bildungszentrum Hermann Hesse (BZH) ist anders als viele Schulen. Es geht seinen eigenen Weg und muss es auch, denn alle, die dort ihren Abschluss machen wollen, sind zuvor gescheitert und verbinden mit Schule nichts Gutes. Als sie eigentlich zur Schule gehen sollten, waren sie ganz woanders: auf Krankenstationen, in der Jugendpsychiatrie, auf Drogen. Hier bekommen sie noch mal eine Chance.

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Schulleiter Janosch
Janosch leitet die Schule

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Schulhof
Mit der Ankunftszeit ist man am BZH flexibel

Eine elfte Klasse auf der zweiten Etage. Alle blicken konzentriert zum Smartboard, an dem Björn, der Klassenlehrer, Zwei-Punkte-Steigungen erklärt, um sie auf die Mathearbeit vorzubereiten.

Florian, 28 Jahre, guckt zweifelnd. Für ihn wird es die erste Klausur seit langem sein. Vor ein paar Jahren hat er am BZH bereits seinen Realschulabschluss nachgeholt, jetzt will er noch das Fachabitur schaffen. In seiner Jugend rauchte er so viel Cannabis, dass er alles vernachlässigte. Er ging nicht raus, wurde depressiv. „Du stehst morgens auf und denkst: Jetzt erst mal einen Joint.“ Irgendwann fragte er sich: „Wo bin ich in 15 Jahren?“ Da habe er nichts Gutes gesehen. 

Wer am BZH lernen will, muss den Willen mitbringen, abstinent zu leben. Mit Urinkontrollen wird überprüft, ob man sich an diese Regel hält

Viele junge Suchtkranke haben hier seit der Gründung der Schule vor über 50 Jahren doch noch ihre Abschlüsse nachgeholt – vom Hauptschulabschluss bis zum Abitur. Sie sind zwischen 15 und 35 Jahre alt, über die Hälfte war in den letzten Jahren abhängig von Cannabis, andere von Amphetaminen, Opiaten, Kokain, Alkohol oder von einem Mix daraus und häufig begleitet von psychischen Erkrankungen. Der Anteil der Schüler:innen, die ausschließlich aufgrund von psychischen Problemen ans BHZ kommen, steigt dabei.

Um am BZH lernen zu dürfen, müssen sie den Willen mitbringen, abstinent zu leben. Durch Urinkontrollen wird überprüft, ob sie die Regel einhalten. Eingeschult wird, wer sich dazu entschließt. Warten, bis das neue Schuljahr beginnt, muss niemand, bei Bedarf können täglich neue Schüler:innen aufgenommen werden. Ein Abschluss bietet die Chance, wieder an der Gesellschaft teilzuhaben. 

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Björn
Björn unterrichtet Mathematik

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Florian
Florian hat früher viel gekifft

Statt auf seinem Platz sitzen zu bleiben, springt Theo* auf und lehnt sich an die Wand. „Ich habe einfach Energieschübe.“ Theo, 18 Jahre alt, die Haare bunt gefärbt, ist Autist. Um sich konzentrieren zu können, muss er sich zwischendurch mit seinem Handy ablenken oder mit Kopfhörern abschotten. In einer anderen Schule wäre das undenkbar. Hier ist es mit Lehrer:innen und Mitschüler:innen abgesprochen. Sie wissen, dass er es nicht immer auf seinem Stuhl aushält.

Klassenlehrer Björn kommt gut mit Theos Ticks klar. Und mit vielem anderen, das zum Alltag dieser Schule gehört: Dass alle verschieden viel wissen. Dass er öfter was wiederholen muss. Wie die Kolleg:innen hat er bewusst auf das bessere Gehalt an einer Regelschule und eine Verbeamtung verzichtet: „Ich habe lieber weniger Schüler und dafür besondere, auf die ich mich einstellen muss, als 30 Leute, alle pubertierend, die keinen Bock auf Mathe haben“, sagt er. Hier seien viele Schüler:innen dankbar und hochmotiviert.

Trotzdem bleiben die Stühle in Björns Klasse manchmal leer. Er ruft die Fehlzeitenstatistik auf. Einige Schüler:innen waren bisher in jeder Stunde da, andere fehlten 30 bis 40 Prozent. Strafen bekommt niemand, ernst genommen wird es trotzdem. „Wer ein Drittel der Zeit nicht da ist, verpasst auch ein Drittel der Inhalte. Wie sollen sie so die Schule packen?“, fragt Björn. Außerdem könnte eine Fehlzeit immer auch einen Rückfall oder ein Depressionsloch bedeuten.

Auf der ersten Etage des Schulgebäudes ist das Büro von Harisa. Sie ist eine der vier Schulsozialarbeiterinnen und kümmert sich um das, was vom Lernen abhält: Behörden anrufen, Krankenkassenärger, Therapieplatzsuche, Finanznöte, Liebeskummer. „Wir entlasten alle, sodass sie sich auf den Unterricht konzentrieren können.“ Die Lehrkräfte kommen zu Harisa, wenn Schüler:innen nicht erscheinen. Spätestens am dritten Tag telefoniert sie ihnen hinterher. Ruft immer wieder an, so oft, bis jemand rangeht, oder schreibt ihnen Mails: Wir machen uns Gedanken! 

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Harisa
Harisa ist eine der vier Schulsozialarbeiterinnen

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Theo
Theo* ist Autist

Bei einem Rückfall wird niemand sofort der Schule verwiesen. Manchmal reicht ein bisschen Motivation, manchmal eine Pause, etwa eine Kurzzeittherapie oder eine Entgiftung. Wer deshalb abbricht, kann später wieder einsteigen.

Allerdings müssen die Schulkosten dann jedes Mal erneut vom Jugendamt oder dem Landeswohlfahrtsverband bewilligt werden. Wenn Schüler:innen gar nicht mehr hingehen, bezahlen Amt und Verband auch nicht länger. Einige kommen auch nach einem gescheiterten ersten Versuch wieder für einen zweiten oder gar dritten. „Für unsere Leute ist es sehr wichtig, einen Schulabschluss zu haben“, weiß Harisa, „denn dieses Versagen an öffentlichen Schulen nagt an den meisten dann doch.“ Auch wahr ist allerdings: Nicht alle schaffen das.

„Hier bin ich nicht diese eine Schülerin, die vier Jahre älter ist
und alles nachholen muss“

Isa*, blonde Haare, blaue Augen, sitzt auf einer Bank im Hof, der alles ist: mal Klassenzimmer, oft Rückzugsort und immer Raucherecke. Zigaretten sind das einzige Suchtmittel, das an der Schule erlaubt ist. Sie sagt: „Zu wissen, dass ich das Abitur machen kann, ist ein Riesengeschenk.“ Ein Chefarzt habe mal zu ihren Eltern gesagt, er glaube nicht, dass sie älter als 18 werde. Jetzt ist sie 19 und in der Abschlussklasse.

Neben Isa lehnt ihr Rennrad. Sie hat Schluss für heute und muss gleich los zu einem Termin. Ihr Handy zeigt elf entgangene Anrufe. „Meine ganze Familie ist in Alarm, wenn sie sehen, dass ich sie erreichen wollte, und danach nicht rangehe.“ Sie verstehe das. Sie sei früher so oft in der Notaufnahme oder in der Geschlossenen gelandet. „Eine gewisse Angst wird immer bleiben, wenn man so was mit seinen eigenen Kindern durchlebt.“ Heute hat sich nur ihr Handy in der Tasche selbstständig gemacht und die Nummer der Eltern angeklingelt. 

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Sidney
Sidney* flog mit 13 von der Schule

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Isa
Isa* ist jetzt in der Abschlussklasse

„Wir bekommen die Leute oft erst nach jahrelangem Struggle“, bedauert Alice, die den Vorkurs für die Hauptschulklasse unterrichtet. Am BZH müssen sie sich zuerst wieder an die Basics gewöhnen: regelmäßig kommen, Schulsachen dabeihaben, Hausaufgaben machen, zuhören. In der Eingangsstufe gibt es weder Klausuren noch Noten, das Fächerangebot ist reduziert, bis alle auf einem Level sind. 

Alice erklärt an diesem Vormittag in Politikwissenschaften, wie die Landtagswahl in Hessen abläuft, zeigt, welche Parteien auf dem Wahlzettel stehen. Fünf Schüler:innen sitzen im Unterricht. Sidney*, 20, ist eine von ihnen. Trotz der vielen Piercings in ihrem Gesicht und dem dunklen Make-up sieht sie jünger aus. Den zum Schrei aufgerissenen Mund auf ihrem Sweatshirt hat sie selbst gemalt.

„Die letzte Klasse, die ich erfolgreich abgeschlossen habe, war die siebte“, sagt sie. Ihre Eltern seien oft umgezogen. Überall war sie die Neue, irgendwie anders. Sie wurde viel gemobbt. „Ich hatte nie Probleme mit dem Lernen, aber das Soziale fiel mir schwer.“ Mit 13 flog sie von der Schule. Die Jahre danach verbrachte sie fast durchgängig in der Psychiatrie, sie verletzte sich selbst und war suizidal. 

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Schulhof
Der Schulhof des BZH

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Alice
Alice unterrichtet den Vorkurs für die Hauptschulklasse

Diese Schule, sagt sie, sei ihre letzte Option. „Hier bin ich nicht diese eine Schülerin, die vier Jahre älter ist und alles nachholen muss.“ Sie hatte schon angefangen zu arbeiten, doch es bleiben wenige Jobs, wenn man keinen Schulabschluss hat. Am liebsten will sie eine Ausbildung zur Notfallsanitäterin machen.

Alle Schüler:innen erzählen von der guten Stimmung an der Schule. Dass es kaum Gruppenbildung gibt, schon gar kein Mobbing, dafür gegenseitige Hilfe. Vielleicht, weil alle ähnliche Probleme kennen, alle schon mal Außenseiter:innen waren, alle Therapieerfahrung haben. Und sie alle eint ein Ziel: den Abschluss schaffen.

Alle erzählen von der guten Stimmung an der Schule. Dass es kaum Gruppenbildung gibt, schon gar kein Mobbing, dafür gegenseitige Hilfe

Alice erzählt von Absolvent:innen, die heute bei der Deutschen Bank oder an der Börse arbeiten, einige haben ihren eigenen Handwerksbetrieb eröffnet. Viele wollen nach der Schule Soziale Arbeit studieren, um etwas zurückzugeben.

„Schwierig ist der Übergang an Unis oder überhaupt zurück ins Leben trotzdem“, meint Alice nachdenklich. „Statt auf dem wohnzimmerähnlichen Schulhof sitzen sie in einem Hörsaal mit 500 Leuten.“ Sie gehen zurück in eine Welt, in der sich nicht alle duzen und auf Augenhöhe sind, wo nicht jeder eine zweite, dritte und vierte Chance bekommt, sondern wo es Strafen und oft wenig Verständnis gibt. Und statt eines offenen Anfangs mit Gratiskaffee einen offenen Ausgang.

* Der Schüler und die Schülerinnen möchten gern anonym bleiben. Die Namen sind der Redaktion bekannt.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.