Die „Erschließung des Westens“ – für das weiße Amerika ist sie eine heroisch verklärte Erfolgsgeschichte, für die indigene Bevölkerung ist sie ein Trauma. Ein Trauma, das eng mit todbringenden Seuchen verknüpft ist. Die Corona-Pandemie verglich man in Europa und den USA mit der mittelalterlichen Pest und der Spanischen Grippe – an das große Sterben der Native Americans dachte man nur selten. Diese Lücke in der Erinnerung deckt nun ausgerechnet ein Horrorfilm auf. „Niemand will seine koloniale Vergangenheit in vollem Umfang anerkennen“, erzählt der Regisseur Jeff Barnaby im Skype-Interview von seinem Zuhause in Quebec aus. „Epidemien haben mitbestimmt, wie wir Natives heute leben.“
90 Prozent der Ureinwohner verloren durch eingeschleppte Krankheiten ihr Leben
Barnaby ist in einem Reservat des Mi'kmaq-Volkes in der kanadischen Provinz Quebec aufgewachsen und hat mit seinem Horrorfilm „Blood Quantum“ gerade einen Überraschungserfolg in Kanada gelandet. Es ist nicht nur der erste Film, der eine Zombie-Apokalypse aus Sicht der nordamerikanischen Ureinwohner erzählt, sondern auch der erste, dessen Hauptdarsteller hauptsächlich Native Americans oder Mitglieder der kanadischen First Nations sind. Die Ausgangslage ist klassischer B-Movie-Horror. Doch Barnaby hat einen soziopolitischen Twist eingefügt: Bei ihm sind die Ureinwohner als Einzige immun gegen den Biss der Zombies. Nur die weißen „Townies“ stecken sich an und fressen gierig alles auf, was ihnen in die Quere kommt.
Schätzungen zufolge verloren in den ersten 150 Jahren nach der Ankunft weißer Siedlerkolonisten bis zu 90 Prozent der amerikanischen Ureinwohner durch Krankheiten wie Masern, Pocken, Grippe oder Typhus ihr Leben. Die eingeschleppten Krankheiten haben mit dazu beigetragen, dass die Kolonialherren das Land so schnell erobern konnten. Wie eine Vorhut waren die Viren und Bakterien oft sogar schneller vor Ort als die Siedler und Händler selbst. Auch deshalb konnten die Neuankömmlinge ihren Landraub damit rechtfertigen, es mit einem „leeren Land“ oder einer „unproduktiven Wüste“ zu tun zu haben. Nicht wenige behaupteten sogar, dass die Auslöschung der amerikanischen Ureinwohner „gottgewollt“ sei, da die Weißen mehr oder weniger verschont blieben.
„Durch das Virus verstehen die Zuschauer noch besser, was es bedeutet, wie wir in ständiger Angst zu leben“
Auf jede neue Krankheitswelle folgten Hunger, Flucht und erbitterte Kämpfe um Ressourcen. Zahlen können den Schrecken und das Elend nicht so eindrucksvoll abbilden. Ein Horrorfilm dagegen schon. „Sie starben wie elende Schafe“, schrieb etwa ein britischer Gouverneur in den 1630er-Jahren nach Ausbruch einer Pockenepidemie in der Kolonie Plymouth. „Wenn sie sich umdrehen, schält sich eine ganze Seite auf einmal ab, und sie sind eine einzige blutverkrustete Wunde.“ Die Natives nannten die Pocken das „verrottende Gesicht“.
Trotz eines im Austausch gegen Landrechte garantierten Rechts auf Gesundheitsversorgung wurde den Natives nie dieselbe medizinische Versorgung zuteil wie der weißen Bevölkerung – bis heute, wie die Corona-Pandemie zeigt. Kaum eine Minderheit ist dem Virus so schutzlos ausgeliefert wie die indigene Bevölkerung. In den meisten Reservaten Amerikas und Kanadas herrschen noch immer Armut und chronische Unterversorgung. Es gibt zu wenig Ärzte und zu wenig Aufklärung. Oft haben die Bewohner noch nicht einmal sauberes fließendes Wasser, um sich regelmäßig die Hände zu waschen.
Als der Präsident das Virus noch leugnete, riefen die Stämme schon den Notstand aus
Besonders heftig hat es das Gebiet der Navajo Nation getroffen. Auf drei Bundesstaaten verteilt, ist es das größte Reservat Amerikas und auch der Ort, wo das Virus am härtesten zugeschlagen hat. 350 Navajos sind an dem Virus gestorben. Damit ist die Todesrate doppelt so hoch wie in New York. „Unter der Vernachlässigung und Ignoranz gegenüber Minderheiten, die die westliche Kultur seit 500 Jahren prägen, leiden wir bis heute“, sagt Barnaby, dessen Frau auf dem Gebiet der Navajo aufgewachsen ist. „So gesehen war die Epidemie keine Überraschung für uns.“
Und das ist auch eine der bitter-ironischen Botschaften seines Films: Wer die Seuchen, die Ausgrenzung, die Armut, die Gewalt und die Zwangsassimilierung überlebt hat, übersteht auch eine so absurd brutale Prüfung wie die Zombie-Apokalypse. Dabei hat die Immunität der Ureinwohner in „Blood Quantum“ eine Machtverschiebung zur Folge, die die Geschichte noch einmal umzuschreiben versucht: Die, die einst von Krankheiten so stark dezimiert wurden, dass ein Unabhängigkeitskampf erfolglos bleiben musste, sind nun jene, die die Menschheit vor der Auslöschung durch eine invasive, exponentiell anwachsende Bedrohung retten müssen.
Dieser Gestus von Selbstschutz und Selbstermächtigung hat in der Corona-Krise Parallelen in der Realität: Weil sie der Regierung nicht vertrauten, haben viele Gemeinschaften proaktiv gehandelt. Während Donald Trump noch die Gefahren des Coronavirus in Zweifel zog, riefen bereits 53 der 574 offiziell anerkannten Stämme der USA den Notstand aus. 39 schotteten ihre Reservate gleich ganz ab oder haben Ausgangssperren verhängt, darunter die Sioux in South Dakota, die in Eigeninitiative Checkpoints errichteten – gegen den Willen der Gouverneurin, die die Straßensperren für illegal erklärte.
Barnaby hofft, dass sein Film, der in Deutschland im Herbst auf DVD erscheint, dazu beitragen kann, auf die Situation der Natives aufmerksam zu machen. „Durch das Virus verstehen die Zuschauer noch besser, was es bedeutet, wie wir in ständiger Angst zu leben.“
Filmstills: Koch Films