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Mama kocht, Sandeep liefert

Die Dabbawalas in Mumbai sind ein echtes Logistikwunder

Dabbawalas

Frühmorgens, wenn die Motoren noch nicht alles übertönen, gehören Mumbais Straßen den Radfahrern. Sandeep Gaikar, 50, schwerer Schnauzer, weiße Gandhi-Mütze, ist auf dem Weg zur Arbeit. Sein Fahrrad steht am Bahnhof Navi Mumbai. Während die Stadt erwacht, wird er es geschickt zwischen den Rikschas, Motorrädern, Autos und Lkw hindurchfädeln, die hupend um die Vorfahrt kämpfen.

Sandeep bleibt gelassen. Mit jedem Stopp an einer Haustür wird sein Fahrrad bunter und schwerer: Am Lenker und Gepäckträger hängen Taschen, in die er Blechdosen stapelt, die sogenannten Dabbas. Sie sind gefüllt mit frisch zubereiteter Hausmannskost, die Sandeep zu seiner Kundschaft ins Büro liefert, seit mehr als 30 Jahren, bei Monsunregen, dichtem Verkehr und während politischer Unruhen. Er ist einer der Dabbawalas, die jeden Tag rund 50.000 Mahlzeiten in der indischen Metropole ausliefern. Für ihn ist der Job eine Berufung. „Wir sind Dabbawalas“, sagt Sandeep, „wir sind mehr als Zusteller.“

Seit 130 Jahren bringen die Dabbawalas privat gekochtes Essen von der Wohnung zum Arbeitsplatz

Die Geschichte der Dabbawalas geht mehr als 130 Jahre zurück. Unter britischer Kolonialherrschaft kamen Menschen aus allen Teilen des Landes zum Arbeiten nach Mumbai. Und mit ihnen etliche Gemeinschaften, die andere Geschmäcker und religiöse Essensvorschriften hatten als die Kolonialherren. Ein Geschäftsmann eröffnete ein Unternehmen, das die von den Ehefrauen oder Müttern zu Hause zubereiteten Gerichte zu den Männern an den Arbeitsplatz brachte.

Auch Sandeep wurde Dabbawala, als er neu nach Mumbai kam, in den 1990er-Jahren war das. Seitdem hat sich die Bevölkerung der Metropolregion nahezu verdoppelt, die Rushhour hört gar nicht mehr auf, und die meisten Mahlzeiten müssen aus den Mittelschichtswohngegenden im Norden in das Geschäftszentrum im Süden gebracht werden. Um die Strecken schnell und günstig zurückzulegen, setzen Dabbawalas auf einen eigenen Verkehrsmix. Fast jede Lunchbox wechselt mehrmals das Transportmittel, bevor sie ihr Ziel erreicht. Wenige nutzen einen Roller, fast alle ihr Fahrrad, um durch die dicht befahrene Stadt zu kommen, „und die Bahn“, sagt Sandeep, „die ist unsere Lebensader“.

Er hat mittlerweile alle Mahlzeiten eingesammelt und wird jetzt zum Bahnhof Navi Mumbai zurückkehren. Das System ist einfach und komplex zugleich: An einem örtlichen Bahnhof sortieren die Dabbawalas die Boxen von Hand für die Weiterlieferung an Bahnhöfe im Zentrum Mumbais und bringen sie von dort zu ihren Bestimmungsorten, bei langen Touren über mehrere weitere Zweigbahnhöfe. Die schiffchenförmige weiße Kopfbedeckung hilft ihnen, sich auf überfüllten Plätzen wiederzuerkennen. Dank eines Codes aus Ziffern, Buchstaben und Farben, der auf die Box gemalt ist, wissen die Boten, woher die Box kommt, welche Bahnhöfe sie passieren muss und an welcher Adresse der hungrige Empfänger wartet. Die Boxen wandern oft durch mehrere Hände und kommen trotzdem pünktlich an.

 

Diese eigenwillige, kleinteilige Logistik hat Ökonomen und Firmen inspiriert. Sie lockt Touristen an, die Touren zu den Dabbawala-Spots unternehmen, das können Bürgersteige sein, Straßenecken oder die Bereiche vor Fahrkartenschaltern, an denen die Fahrer Dabbas sortieren, ihre Fahrräder parken und sich austauschen. Dank ihres Systems konnten die Dabbawalas neben den aufkommenden Bürokantinen, multinationalen Fast-Food-Ketten und Lieferservices bestehen.

Schlaglöcher, Luftfeuchtigkeit, Regenzeit – aber stoppen konnte die Dabbawalas erst die Pandemie

„Die Dabbawalas sind ein fester Bestandteil unserer Stadt“, sagt Firoza Dadan. Als erste Fahrradbürgermeisterin Mumbais förderte sie das Radfahren in der Stadt als Freizeitbeschäftigung, als Transport- und eben auch als Arbeitsmittel. Gerade macht sich Dadan mit einer niederländischen NGO für Straßenarbeiten stark: Schlaglöcher sind für die vollgeladenen Fahrräder ein Problem. Und Hindernisse gebe es auch so genug. Im Großraum Mumbai leben etwa 22 Millionen Menschen, jeden Tag machen neue Baustellen auf, die Luftfeuchtigkeit ist hoch, im Sommer kann es wochenlang regnen. Und die Pandemie war auch für die Dabbawalas eine Zäsur: Vor 2020 lieferten 5.000 Kuriere jeden Tag rund 200.000 Mahlzeiten aus. Aber weniger Angestellte in Büros heißt weniger Lieferessen, rund die Hälfte der Dabbawalas macht heute andere Jobs, sie fahren Autorikscha, arbeiten in der Landwirtschaft oder als Wachmänner.

Dieser Text ist im fluter Nr. 92 „Verkehr“ erschienen

Während der Pandemie verteilte Sandeep Lebensmittel statt Mittagessen. Um der Konkurrenz zuvorzukommen, passte er seine Route an. Statt bis in den Süden der Stadt zu juckeln, konzentrierte er sich auf die Satellitenstadt Navi Mumbai: Hier steht der größte Obst- und Gemüsemarkt der Region, der vor Tagesanbruch öffnet. „Sandeep ist pünktlich und versteht sein Handwerk“, lobt einer der Händler dort.

Sandeep kennt die Gewohnheiten seiner Kunden, oft auch ihre Sorgen. Er arbeitet sechs Tage die Woche für 10.000 bis 15.000 Rupien im Monat, also höchstens 160 Euro. Eine Wohnung in der Innenstadt und ein eigenes Auto könnte er sich damit eh nicht leisten.

Nach den ersten Lieferungen des Tages findet Sandeep im nahen Tempel einen Moment der Stille. Danach sammelt er die leeren Dabbas ein und fährt sie wieder zurück zu den Familien. Noch nie hat er eine Lieferung verpasst oder das falsche Mittagessen geliefert.

Titelbild: amnat30/shutterstock – Natalie Mayroth 

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