„Vorab muss ich darauf aufmerksam machen, dass alleine das Niederschreiben dieser Zeilen seelisch wie körperlich äußerst belastend ist.“ Mit diesen Worten beginnt der Mensch, der Margarethe Frances Maria getauft wurde und sich später nur noch Frances nennt, seine Lebensgeschichte, die er für den Verein „Intersexuelle Menschen“ aufgeschrieben hat und die vom Deutschen Ethikrat erneut erzählt wurde. Es ist die Geschichte einer Person, die nicht in bestimmte medizinische Kategorien passte – und mit Operationen und Hormonen zu etwas gemacht wurde, das sie gar nicht sein wollte.
Margarethe, geboren 1957, wächst mit ihren zwei Schwestern nahe Stuttgart auf. Scheinbar ist sie ein Mädchen wie viele andere. Sie hat eine Vagina, Brüste – und ihren eigenen Kopf: In der Schule möchte sie lieber Hosen statt der verpflichtenden Röcke tragen. Doch Margarethes Menstruation setzt einfach nicht ein. Sie wird 13, 14, 15. Dann gehen ihre Eltern mit ihr zum Arzt – und erfahren: Margarethe hat einen männlichen XY-Chromosomensatz und innen liegende männliche Geschlechtsorgane. Sie wird keine Kinder bekommen können – und müsse wegen eines erhöhten Krebsrisikos operiert werden. „Mit einem Bikinischnitt wurden beide Keimdrüsen komplett entfernt“, schreibt Frances. „Man erklärte mir, dass ich nun Hormontabletten lebenslang einnehmen müsse.“
Ohne die Eltern oder Frances sachgerecht aufzuklären, entfernt der Arzt 1973 die versteckten Hoden, verschreibt weibliche Hormone und entscheidet somit, dass Frances als Frau weiterzuleben hat. Dabei ist Frances’ Identität noch gar nicht geklärt. Damit beginnt die gesundheitliche Abwärtsspirale. Frances wird depressiv, bekommt Diabetes und nimmt drastisch zu. Die Blutzucker- und Cholesterinwerte verschlechtern sich trotz mehrmaliger Wechsel der Hormonpräparate. Frances schafft es noch Agraringenieur zu werden, doch so geschwächt, verliert er erst eine Stelle auf einer Öko-Farm in Großbritannien und auch alle darauffolgenden Jobs. „Arbeitslosigkeit – sowie mehrere Umzüge und Enden von Beziehungen – sind einzig durch die Kastration und Östrogene sowie die falschen gesellschaftlichen, rechtlichen, psychologischen und medizinischen Vorstellungen von den beiden richtigen Geschlechtern verursacht“, kommentiert Frances diesen Lebensabschnitt.
"Man erklärte mir, dass ich nun Hormontabletten lebenslang einnehmen müsse"
Bis Frances offen mit dem Leben als Frau bricht, vergehen aber noch über 20 Jahre. 1996 entscheidet sich Margarethe, fortan als Frances zu leben. Im Jahr 2000 schätzt die Hausärztin, dass Frances wegen der Stoffwechselerkrankungen nur noch wenige Jahre zu leben habe. Erst als Frances es mit dem männlichen Sexualhormon Testosteron versucht, wird es besser. Heute lebt Frances zwar selbstbewusst als Mann, trägt zeitweise Vollbart. Doch da Frances für den Gesetzgeber und die Krankenkasse als Frau gilt, ist es schwer, an Testosteron zu kommen, da dieses eigentlich nur Menschen verschrieben wird, die laut Pass männlich sind.
Frances ist intergeschlechtlich aufgrund des sogenannten Swyer-Syndroms. Mediziner unterscheiden eine Vielzahl von Ursachen und Ausprägungen von Intergeschlechtlichkeit. Manche sind schon bei der Geburt sichtbar, manche erst in der Pubertät oder noch später. Frances konnte als Fötus, vereinfacht ausgedrückt, keine äußeren Hoden und keinen voll entwickelten Penis herausbilden. Daraufhin wurde anschließend das Entwicklungsprogramm für Frauen weitergefahren: Es bildeten sich sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsmerkmale.
Sie bezeichnen sich als „Hermaphroditen“ und versuchen, zwischen den Geschlechternormen zu leben
Oft wird intersexuell mit transsexuell verwechselt. Transsexuelle Menschen sind biologisch eindeutig Mann oder Frau, fühlen sich aber dem anderen Geschlecht zugehörig. Intersexuelle Menschen dagegen können gar nicht erst in diese Kategorien eingeteilt werden. Und einige von ihnen wollen das auch gar nicht. Sie bezeichnen sich etwa als „Zwitter“ oder „Hermaphroditen“ und versuchen, zwischen den Geschlechternormen zu leben. So wie eine intergeschlechtliche Person, die dem Magazin „Stern“ verriet, lieber mit „Hermaphrodit Müller“ statt mit "Frau Müller" angesprochen werden zu wollen.
Es gibt Schätzungen, wonach eins von 4500 Babys in Deutschland intersexuell ist. Hinzu kommt eine wahrscheinlich hohe Dunkelziffer – an verlässlichen Statistiken mangelt es, denn auf Geburtsurkunden musste bis vor kurzem zwangsweise entweder „männlich“ oder „weiblich“ stehen. Erst seit Ende 2013 kann in Deutschland das Geschlecht im Geburtenregister „offen“ bleiben – welches von Inter-Organisationen im Übrigen kritisiert wird, da so jeder direkt weiß, dass ein „offenes“ Kind intersexuell ist und womöglich diskriminiert wird. Als Alternative fordern sie, dass man die Frage nach dem Geschlecht gar nicht beantworten muss, um eine Geburtsurkunde zu bekommen – also weder „offen“ noch irgendetwas anderes eintragen muss.
Die Ärzte entschieden, die Eltern entschieden, die Betroffenen selbst entschieden nicht
Bis vor wenigen Jahren war es bei Intergeschlechtlichkeit gängige Praxis, dass viele Betroffene nicht über ihre Lage aufgeklärt, oder oft auch direkt kastriert wurden. Die Ärzte entschieden, die Eltern entschieden, die Betroffenen selbst entschieden nicht.
Mit Frances’ Geschichte hat sich 2012 auch der Deutsche Ethikrat auseinandergesetzt, um die Situation und die Probleme intersexueller Menschen in Deutschland besser zu verstehen. Daraufhin warnte der Ethikrat: Intersexuelle Menschen müssen vor medizinischen Fehlentwicklungen und Diskriminierung in der Gesellschaft besser geschützt werden; er empfahl Beratungen und Selbsthilfegruppen. Einerseits entstanden daraufhin Beratungsstellen, und mehr und mehr betroffene Menschen suchten nach Austausch. Der Bericht des Ethikrats brach mit Tabus und machte klar: Intergeschlechtlichkeit ist keine Krankheit, und viele Eingriffe der Vergangenheit verletzten Rechte. Andererseits war die Stellungnahme auch schwammig und unverbindlich. Die Internationale Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen forderte daher die Einwilligung von Betroffenen als „verpflichtende Voraussetzung für alle medizinischen Verfahren und Behandlungsrichtlinien“.
Diese Praxis stellte sich für viele Intersexuelle als fatal heraus
Erst vor wenigen Wochen hat die intergeschlechtliche Michaela R. aus Mittelfranken vor Gericht erfolgreich Schadensersatz und Schmerzensgeld erstritten, weil sie vor einer Hormontherapie und Operation nicht über die Tragweite und Folgen der Behandlung aufgeklärt wurde. Hinter solchen folgenschweren Eingriffen steckt auch eine medizinische Ethik, die Abweichungen vom klassischen „männlich“ und „weiblich“ noch bis in die Nullerjahre hinein als Störung betrachtete. Intergeschlechtliche Menschen litten demnach an einer Form von DSD, den disorders of sex development (dt.: Störungen der Geschlechtsentwicklung). Im Umgang mit diesen DSD gab ab Mitte des letzten Jahrhunderts der amerikanische Psychologe John Money lange den Ton an. Er ging davon aus, dass die Geschlechtsidentität eines Menschen hauptsächlich durch die Umwelt und Erziehung geprägt wird, und empfahl, ein intergeschlechtlich geborenes Kind durch Operation dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuzuordnen, ein Vorgehen, das als „optimale Geschlechtszuschreibung“ gang und gäbe wurde. Diese Praxis stellte sich für viele Intersexuelle als fatal heraus: Sie bekamen psychische Probleme und litten unter den Folgen der Hormonbehandlungen.
Manchmal wurden die drastischen Genitaloperationen bei Intersexuellen aber auch anders begründet. Einige Ärzte gingen etwa davon aus, dass innen liegende Hoden mit einem erhöhten Krebsrisiko einhergehen. Heute ist der Zusammenhang in der Fachwelt umstritten, und statt etwa innen liegende Hoden gleich zu entfernen, versucht man eher, sie häufiger zu untersuchen. Genitaloperationen müssen medizinisch genauer begründet werden als früher.
Die Debatte, wer wann über eine Genitaloperation entscheiden kann, dauert an
Die Debatte darum, was medizinisch wirklich notwendig ist und wer wannüber eine Genitaloperation entscheiden können sollte, dauert an. Deshalb setzen sich Gruppen wie die „Organization Intersex International“ oder die Berliner Beratung „Queer Leben“ für mehr Selbstbestimmung, gegen die pathologisierende Definition von Intersexualität als „Störung“ und gegen die Auffassung ein, dass ein Mensch zwingend einem von zwei Geschlechtern angehören muss.
In den letzten Jahren haben die Inter-Organisationen einiges erreicht. Etwa politische Aufmerksamkeit: „Liebe Eltern, nicht alle Neugeborenen kommen mit einem eindeutigen Geschlecht zur Welt. Dass sie deswegen nicht krank sind und ein gutes Leben führen können, ist noch viel zu wenig bekannt. Sofortige medizinische Eingriffe sind nur in seltenen Fällen notwendig.“ Mit diesen Worten richtete sich Familienministerin Manuela Schwesig in einem Queer-Leben-Flyer jüngst an frischgebackene Eltern. Der Deutsche Ethikrat empfiehlt und verwendet die Abkürzung DSD in Übereinstimmung mit dem heute in der Debatte in Deutschland vorherrschenden Verständnis übrigens als Kurzform für das neutralere differences of sex development (dt.: Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung), statt wie zuvor von disorders zu sprechen.
Frances ist heute übrigens verheiratet. Mit Claudia. Auch Claudia ist intergeschlechtlich. Frances ist dabei laut Pass eine Frau, Claudia ein Mann.
Titelbild: Kostis Fokas