In der Dolmetschkabine habe ich den Brexit miterlebt und hohe Gäste wie Bundeskanzler Olaf Scholz. Ich dolmetsche im Europäischen Parlament ins Deutsche. Wenn die Abgeordneten oder andere deutschsprachige Anwesende ihre Kopfhörer aufziehen, hören sie also meine Stimme. Oft sprechen im EU-Parlament auch normale Bürger:innen, die sich für etwas engagieren. So wie eine irische Mutter, die ihr Kind verloren hat infolge von Mobbing. Wenn es wie in dem Fall sehr ergreifend wird, kann das Übersetzen schon mal sehr schwierig sein.
Ich dolmetsche alle möglichen Formate: Plenarsitzungen, Fraktionssitzungen, Ausschüsse oder Arbeitsgruppen. Im EU-Parlament gibt es 24 Amtssprachen. Wenn wir Sitzungen übersetzen, haben wir den Anspruch, fast immer in die eigene Muttersprache zu dolmetschen. Wobei man Muttersprache entsprechend definieren muss: Manche Menschen wachsen ja in einem Land mit anderer Sprache als ihrer Muttersprache auf und können diese auch perfekt. Im Dolmetsch-Slang sagen wir deshalb A-Sprache zur Sprache, die man wirklich perfekt beherrscht. Ich dolmetsche aus dem Französischen, Englischen, Griechischen, Spanischen und Rumänischen. Bei diesen Sprachen muss ich ein tiefgehendes sprachliches und kulturelles Verständnis haben, um wirklich alle Feinheiten verstehen zu können.
„Manche Leute denken, dass wir überhaupt nicht aktiv mitdenken und das Gesagte durch den Kopf geht, als ob wir eine Maschine wären“
Bevor es mit dem Simultandolmetschen losgeht, zieht man den Kopfhörer über ein Ohr und lässt das andere frei, um noch zu hören, was man selbst sagt. Das ist sehr wichtig, und das üben wir im Studium besonders viel. Konzentriert man sich nur auf Hören und Verarbeiten und nicht mehr auf das, was aus dem eigenen Mund herauskommt, passiert es einem als Anfänger mit auch noch so perfektem Deutsch, dass man Dinge sagt wie „der Auto“ und „die Stuhl“.
Oft werde ich gefragt, ob Dolmetscher:innen eigentlich verstehen, worüber jemand im Saal gerade spricht. Manche Leute denken, dass wir überhaupt nicht aktiv mitdenken und das Gesagte durch den Kopf geht, als ob wir eine Maschine wären. Aber wir müssen die ganze Zeit erfassen, worum es geht. Das erfordert viel Konzentration. Deshalb dolmetschen wir bei den Plenarsitzungen in Straßburg und Brüssel, wo die Abgeordneten intensiv debattieren und es Abstimmungen innerhalb von Sekunden gibt, als Team maximal drei Stunden am Stück. Während dieser Zeit wechseln wir uns untereinander bei den verschiedenen Redner:innen ab. Und wenn ich mal ein Wort oder eine Zahl nicht mitbekommen habe, helfen mir die Kolleg:innen: Im Europäischen Parlament arbeiten etwa 270 festangestellte Dolmetscher:innen. Außerdem gibt es eine Reserve von etwa 1.500 externen Übersetzer:innen.
Bevor eine Sitzung losgeht, bekommen wir manchmal vorab eine Rede von Abgeordneten oder eine PowerPoint-Präsentation von eingeladenen Expert:innen. Dann kann man die schon mal überfliegen. Aber eigentlich ist es wichtiger, gut auf das grundsätzliche Thema einer Sitzung vorbereitet zu sein.
„Es kommt auch mal vor, dass ich bei hohem Wellengang auf einem Schiff dolmetsche oder im Schlachthof, wo es sehr laut ist“
Dieses thematische Vorbereiten und eine allgemeine Vorbereitung sind ein großer Teil meiner Arbeit. Denn ich muss auch immer auf dem neusten Stand sein, was das politische Geschehen in den Ländern meiner Dolmetschsprachen und weltweit angeht. Also lese ich viel Zeitung und höre Radio in allen Sprachen, aus denen ich dolmetsche. Das ist außerdem wichtig, um meine Sprachkenntnisse auf höchstem Niveau zu halten. Auch mein Deutsch muss ich fit halten, weil ich im Ausland in Belgien lebe. Sonst kann eine Sprache, wenn man sie nicht pflegt, auch irgendwann verarmen oder sich nicht mehr richtig anhören.
All diese Teile des Jobs finde ich sehr vielfältig, mir wird nie langweilig. Dazu kommen noch die Dienstreisen, bei denen ich Delegationen von Europaabgeordneten begleite. Es kommt auch mal vor, dass ich bei hohem Wellengang auf einem Schiff dolmetsche oder im Schlachthof, wo es sehr laut ist. Bei diesen Reisen sehen einen die Politiker:innen auch mal in persona. Sie sagen dann häufig, dass sie meine Stimme kennen würden. Darüber freue ich mich. Und ich wiederum sehe bei diesen Reisen noch mal auf andere Art, wie die Abgeordneten arbeiten und was sie leisten.