Die spanische Erzieherin Mireia Alexandri Bertran zwischen Kitakindern

¡Hola Fachkraft!

Kitas in Deutschland sind chronisch unterbesetzt. Ausländische Fachkräfte sollen Abhilfe schaffen. Wie gut funktioniert das?

Text: Lars Graue und Fotos: Rafael Heygster
Thema: Arbeit
27. März 2025

Es ist ein nasskalter Dezembertag in Garbsen, einer Mittelstadt bei Hannover, kurz nach Mittag. Die Suppenschüsseln sind leer, die Kinder satt. Während die Drei- bis Sechsjährigen noch Butterkekse mümmeln, bespaßen die Kindergärtnerinnen sie mit einem Klassiker: dem Spiel „Wer hat den Keks aus der Dose geklaut?“. Es geht so: Jemand wird beschuldigt, einen Keks gestohlen zu haben, der oder die streitet es ab und leitet den Vorwurf weiter. Nach wenigen Runden sagt ein Junge: „Mireia hat den Keks aus der Dose geklaut.“ Alle Augen sind auf die Frau mit schwarzem, lockigem Haar gerichtet. Die stockt kurz und flüstert ihrer Kollegin zu: „Was muss ich sagen?“

Eigentlich spricht Mireia Alexandri Bertran, 25 Jahre alt, ziemlich flüssig Deutsch – dabei lebt sie erst seit September 2024 in Deutschland. Bertran kam aus Barcelona nach Garbsen, seitdem arbeitet sie als Sozialassistentin im Familienzentrum St. Maria Regina.

In ihrer Heimat ging Bertran als Erzieherin auf dem Zahnfleisch. Ständig krank, angesteckt bei den Kindern, musste sie dennoch in die Kita, um sich dort zeitweise alleine um 20 Babys zu kümmern. In der Zeit habe sie kaum geschlafen. Das alles für 1.100 Euro Lohn. Ohnehin sei der Arbeitsmarkt für Erzieher:innen in Spanien laut Bertran vertrackt. Es gebe zu viele Erzieher:innen für zu wenige Stellen. Gründe genug für sie, nach Deutschland auszuwandern.

Die spanische Erzieherin Mireia und die Kitakinder im Stuhlkreis

Wer hat den Keks aus der Dose geklaut? Bei Stuhlkreisspielen kann Mireia Alexandri Bertran noch dazulernen

Deutschlands Kitas stecken in der Krise. Sie benötigen mehr pädagogisches Personal, dringend. Bundesweit fehlen laut Paritätischem Gesamtverband 125.000 Erzieher:innen. In Niedersachsen hat die Landesregierung im vergangenen Sommer Standards gesenkt, sodass nun etwa fachfremde Elternteile oder Rentner als Hilfskraft einspringen dürfen – in Garbsen bereits geschehen, um Ausfälle zu verhindern. Mögliche Abhilfe für die Personalkrise: ausländische Fachkräfte wie Mireia Bertran.

Während Bertran mit einigen Kindern draußen spielt, eilt ihre Chefin im Weihnachtspullover durch den Empfangsraum der Kita. Aneta Muskalla bleibt neben der Eingangstür stehen. Sie zeigt auf den Linoleumboden, darauf: triefnasse Handtücher, und blickt zur Decke: „Über Nacht hat es reingeregnet. Kleiner Wasserschaden.“ Als sei die Kita-Leiterin nicht schon genug beschäftigt. Drei Mitarbeiterinnen ihres notorisch unterbesetzten Personals – aktuell betreut eine Fachkraft rund 17 Kinder, also 10 mehr als empfohlen – fallen derzeit aus, es ist Anfang Dezember, Erkältungssaison. Letzte Woche musste die Einrichtung deswegen an zwei Tagen schließen, eigentlich der letzte Ausweg.

Ihr Abschluss wird nicht richtig anerkannt

In Spanien – dort ist die Ausbildung akademisch – hat Bertran frühkindliche Bildung studiert und danach in drei Kitas als Erzieherin gearbeitet. Trotzdem muss sie in Deutschland erst einmal als Sozialassistentin arbeiten; quasi eine Vorstufe zur Erzieherin: geringerer Verdienst, kürzere Ausbildungszeit, weniger Befugnisse, mit der Option, sich zur Erzieherin weiterzubilden. Neben Sprachunterricht, der bereits vor ihrer Ankunft in Deutschland begann, und Kita-Betrieb muss sie noch jenen Stoff lernen, den es für einen deutschen Abschluss braucht; alles organisiert durch ein Projekt des Caritasverbandes Hannover sowie einiger Kommunen. Eine lange Zeit, findet Bertran. Und das findet auch Chefin Muskalla.

Was Mireia Bertran Anfang Dezember, drei Monate nach ihrer Ankunft, dringend braucht, ist eine Wohnung. Noch lebt sie bei einer vom Projekt vermittelten Gastfamilie, sucht aber mit einer spanischen Freundin bereits seit ihrer Ankunft eine WG. Eigentlich seien drei Monate in der Familie das Maximum gewesen, aber sie konnten nichts finden. Nur wenige ihrer Anfragen wurden überhaupt beantwortet. Wegen ihres spanischen Namen, glaubt Bertran.

Jacken der Kita Kinder hängen an der Garderobe

Zwischen sieben und acht Kinder betreut eine Kita-Erzieherin im deutschen Durchschnitt. Aber wehe, jemand wird krank

Deutschland war und ist für sie trotzdem attraktiv: besseres Gehalt, bezahlte Überstunden, eine eigene Wohnung statt bei den Eltern leben zu müssen. Das gilt aber nicht für jede hochqualifizierte ausländische Fachkraft. Unter ihnen liegt Deutschland laut einer Studie von 2023 nur noch auf Platz 15 der 38 attraktivsten OECD-Einwanderungsländer, 2019 war es noch Platz 12.

Für Prof. Bernhard Boockmann, der das Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) an der Uni Tübingen leitet, noch kein Grund zur Panik. Zwar sei Deutschland nicht für Leute aus allen Regionen der Welt attraktiv, „aber insbesondere dort, wo bereits Migration stattgefunden hat, wo die Pfade bereits gebahnt sind, nimmt man Deutschland durchaus positiv wahr“. Zum Beispiel gebe es konstant hohe Zuwanderungszahlen aus südosteuropäischen Staaten wie Serbien, Mazedonien oder dem Kosovo.

Diskriminierung statt Akzeptanz

Gleichwohl erkennt Boockmann Hürden: Da wäre die starke Formalisierung, etwa auf dem Arbeitsmarkt oder bei der Visavergabe. Die komplizierte Sprache. Die langwierigen Anerkennungsverfahren von Abschlüssen. Laut einer seiner Studien, für die er bereits abgewanderte Fachkräfte befragt hat, wurde mehr als die Hälfte von ihnen in Deutschland diskriminiert. 

Die gesellschaftliche Akzeptanz von Migranten und Migrantinnen ist hierzulande, vor allem im Vergleich mit anderen OECD-Ländern, geringer ausgeprägt. Es ist nicht leicht, in Kontakt zu kommen. Bertran sagt, sie würde gerne mehr Deutsche kennenlernen. Auch, um besser die Sprache zu lernen. Jedoch funktioniere das „so lala“. Eigentlich nur auf der Arbeit.

Laut Pascal Hartwich vom Projekt „Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF)“ der TU Dortmund und dem Deutschen Jugendinstitut könnten Personen mit einer im Ausland erworbenen Qualifikation zwar durchaus ein Teil der Lösung sein, angesichts des Bedarfs von 125.000 Erzieher:innen aber nur ein kleiner. In einer Studie zu Anerkennungsverfahren für den Referenzberuf Erzieher/Erzieherin konnte er herausfinden, dass es im Jahr 2023 insgesamt knapp 2.400 zum Berichtszeitpunkt beschiedene Verfahren gegeben habe, ein Viertel davon wurde abgelehnt. Der größere Hebel, um zusätzliches Personal zu gewinnen, sei nach wie vor das eigene Ausbildungssystem. Doch ist der Beruf, gemessen an seiner gesellschaftlichen Bedeutung, attraktiv genug?

Die spanische Erzieherin Mireia Alexandri Bertran und vier Kitakinder beim Essen

Bertran sagt, sie würde gerne mehr Deutsche kennenlernen, auch um die Sprache besser zu lernen. Doch die sind oft nicht sehr kontaktfreudig

„Nein“, sagt Kita-Leiterin Muskalla wie aus der Pistole geschossen. Und liefert ein Beispiel: Ihre Tochter habe nur Erzieherin werden können, weil sie sie finanziell unterstützt hat. Muskalla bezieht sich auf die Ausbildung in Fachschulen. In der Regel ist sie in den ersten zwei Jahren unbezahlt. Es gibt aber auch alternative Ausbildungsmodelle mit Vergütung wie die Praxisintegrierte Ausbildung (PiA), die ähnlich wie eine duale Ausbildung funktioniert. 

Hartwich sagt, dass zwar einige Verbesserungen in Bezug auf Bezahlung und weniger befristete Arbeitsverträge erkennbar seien, aber die angespannte Personallage sowie deren belastende Konsequenzen für das Personal nach wie vor eine große Herausforderung darstellen. „Betrachtet man die Kita als Bildungsort und vergleicht das mit Bedingungen anderer Bildungsinstitutionen, hinkt sie hinterher.“

Auf keinen Fall will Muskalla nur jammern. Das bringe nichts – wohl aber, sich gegenseitig zu helfen. Wie in der vergangenen Woche, als sie Bertran zu einer Wohnungsbesichtigung gefahren hat. Muskalla ist mit 17 aus Polen nach Deutschland gekommen. „Ich weiß, was es heißt, allein in einer fremden Umgebung zu sein, aber dennoch funktionieren zu müssen“, sagt sie.

Mireia Alexandri Bertran funktioniert. Und möchte in Deutschland bleiben; obwohl die Winter für sie als Spanierin „hart“ seien, obwohl sie anfangs ein wenig schockiert davon war, wie wenig junge Leute in Garbsen herumlaufen. Den Mietvertrag für die Wohnung, zu der Muskalla sie gebracht hat, haben sie und ihre Freundin inzwischen unterzeichnet. Eine Sorge weniger.

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