
„Die Schule ist keine Verwahranstalt. Da findet Kindheit statt“
Warum sind die Schulen überfordert? Gehören Gymnasien abgeschafft? Der Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani kennt sich mit unserem Thema aus wie kaum einer
fluter: Herr El-Mafaalani, Sie haben es als Sohn syrischer Einwanderer nach ganz oben geschafft und sind heute Professor. Was spielte die entscheidende Rolle bei Ihrem Bildungsaufstieg?
Aladin El-Mafaalani: Meine Eltern waren beide Akademiker. Deshalb bin ich auch kein Aufsteiger im klassischen Sinn. In der Grundschule waren meine Noten nicht doll, mein Deutsch auch nicht, weil wir zu Hause Arabisch gesprochen haben. Als ich eine Hauptschulempfehlung bekam, hat sich mein Vater aber verhalten wie die meisten Akademikereltern: Er hat mich trotzdem am Gymnasium angemeldet.

Aladin El-Mafaalani kam 1978 in Datteln im Ruhrgebiet zur Welt. Sein Lieblingsfach war Erdkunde, sein Hassfach Latein. Heute ist er Professor für Migrations- und Bildungssoziologie an der TU Dortmund
Einkommen und Bildungsgrad der Eltern entscheiden über den Erfolg des Kindes im Bildungssystem. Das ist seit 50 Jahren bekannt und gut erforscht. Warum hat sich an dieser Ungleichheit nichts getan?
Halt, es hat sich sogar viel getan: Das System ist deutlich durchlässiger als früher. Immer mehr Kinder von Nichtakademikern machen Abitur und studieren. Die meisten Kinder eines Jahrgangs gehen heute aufs Gymnasium, es gibt mehr Erstsemesterstudierende als neue Azubis. Die Bildungschancen sind in allen Bevölkerungsgruppen gestiegen.
Aber?
Das verringert nicht automatisch die Bildungsungleichheit. Man kann sich das so vorstellen, als würde man allen Bürgerinnen und Bürgern das Gehalt verdoppeln: Dann verdoppelt sich auch die Differenz zwischen den Gehältern. Die Bildungsexpansion hat die Situation für viele Nichtprivilegierte sogar noch verschärft. Der Hauptschulabschluss beispielsweise wurde dabei geradezu entwertet.
Wie könnte das Schulsystem die Bildungschancen zumindest angleichen?
Wir müssen besser monitoren. Es bringt wenig, wenn wir in der vierten Klasse feststellen, dass ein Kind nicht gut lesen kann. Die Sprachförderung muss im Kitaalter erfolgen. Es muss flächendeckend ermittelt werden, wo der Bedarf groß ist, damit dort zielgerichtet investiert wird. Das Startchancen-Programm ist nur ein erster Schritt.
Das Programm soll benachteiligte Kinder und Jugendliche fördern. Bund und Länder geben 4.000 ausgewählten Schulen jedes Jahr zwei Milliarden Euro mehr – damit dort bis 2034 höchstens noch halb so viele Schülerinnen und Schüler die Mindeststandards in Mathematik und Deutsch verfehlen.
Das Programm kommt zu spät, das Geld geht an zu wenige Schulen, aber: Es ist richtig gedacht, weil das Geld da ankommt, wo es gebraucht wird. Die besten Kitas und Grundschulen müssten dort stehen, wo viele benachteiligte Kinder leben. Kleine Gruppen, das kompetenteste Personal, eine ausgeklügelte Sprachförderung.
„Kita und Grundschule funktionieren derzeit nicht, wie sie sollten. Das ist ein Riesenproblem. Was wir dort nicht hinbekommen, können die weiterführenden Schulen kaum ausgleichen“
Nach dem ersten „PISA-Schock“ vor knapp 25 Jahren gab es riesige Reformen in der frühkindlichen Bildung. Alle Kinder bekamen Anspruch auf einen Kitaplatz, ab August 2026 müssen die Grundschulen schrittweise auf Ganztagsbetrieb umstellen. Bringt das alles nichts?
Man hat die Kitas bundesweit in einem irren Tempo ausgebaut. Das war auch gut und richtig, aber die Qualität hat unter diesem Tempo gelitten. Heute gehen so viele Kinder wie nie in Kitas und Ganztagsschulen, aber nahezu alle Bildungsstudien zeigen, dass sich ihre Kompetenzentwicklung verschlechtert. Jedes vierte Kind kann am Ende der Grundschule nicht ausreichend gut lesen. Kita und Grundschule funktionieren derzeit nicht, wie sie sollten. Das ist ein Riesenproblem. Was wir dort nicht hinbekommen, können die weiterführenden Schulen kaum ausgleichen. Deswegen müssen wir ab sofort in Kitas und Grundschulen ohne Ende reinbuttern.
Die Bildungsausgaben steigen doch seit Jahren.
Wir geben mehr aus, aber lange nicht genug. Die Schulen haben einfach keine Priorität in Deutschland. Alle sagen, da müssen wir was machen – und dann ist das Thema in der Regel auch schon wieder durch. Dabei gibt es auch gesellschaftlich enorme Veränderungen: Wir haben Megabaustellen, auf die das Schulsystem bislang kaum reagiert.

Hier zu sehen: Die Grundschule der South China Normal University im chinesischen Guangzhou
Erzählen Sie.
Da ist zum einen, sehr offensichtlich, die Digitalisierung. Die hat viele positive Effekte, aber eben auch: Pornografie, Gewaltdarstellungen, Deepfakes, Fake News. Es gibt in diesem Land kaum einen Zwölfjährigen, der all das nicht schon gesehen hat. Die Reaktion der Schulen ist oft: blockieren, verbieten, Teufelszeug! Als wären die Probleme damit vom Tisch. Das muss aktiv an den Schulen behandelt werden. Zum anderen sehen wir eine verfestigte Kinderarmut. 20 Prozent der Kinder wachsen in Armut auf, und diese Kinder konzentrieren sich sehr stark räumlich.
Was bedeutet das für die Schulen in diesen Einzugsgebieten?
Die Zahlen zeigen, dass unter den Leistungsschwachen fast nur Kinder aus armen Verhältnissen sind. Das ist kein Naturgesetz, die sind nicht dümmer. Aber Armut verdeckt Talent. Die Aufgabe für Schulen und Lehrkräfte ist also, die Talente dieser Kinder zu entdecken. Und zwar auch, weil die Familien sie oft weniger unterstützen: wenn beide Elternteile arbeiten müssen, um über den Monat zu kommen, wenn sie das deutsche Schulsystem nicht kennen oder die Sprache nicht beherrschen.
„Die Zahlen zeigen, dass unter den Leistungsschwachen fast nur Kinder aus armen Verhältnissen sind. Das ist kein Naturgesetz, die sind nicht dümmer. Aber Armut verdeckt Talent“
Dann ist Migration auch so eine Baustelle?
Ja. Wir haben einen größeren Anteil von Kindern und Jugendlichen mit Migrationsgeschichte als klassische Einwanderungsländer wie die USA, Frankreich oder Großbritannien. Und sie kommen aus mehr und mehr Ländern. Diese Superdiversität bedeutet an den Schulen: mehr Konfessionen, mehr kulturelle Leitbilder, mehr Sprachen. Ich war an Grundschulen, an denen 25 bis 30 Sprachen gesprochen werden. All diesen Kindern bis zum Ende der vierten oder sechsten Klasse die Grundlagen beizubringen ist für Lehrkräfte ein Kraftakt.
Schulen müssen heute also viel mehr Aufgaben erfüllen als früher. Sie fordern deshalb, dass Schulen konsequent ganztags gedacht werden.
Kinder und Jugendliche verbringen so viel Zeit in den Bildungsinstitutionen wie nie zuvor. Die müssen deshalb automatisch vieles übernehmen, was früher in den Familien passiert ist. Was das bedeutet, haben viele noch nicht begriffen: Die Schule ist keine Verwahranstalt, in der man sich seine Noten abholt. Da findet Kindheit statt.
Was stellen Sie sich vor?
Das sollten Orte für Kunst und Kultur sein, mit Werkstätten, Gärten, Küchen, Sportangeboten und auch Gesundheitsvorsorge. Das sind auch Angebote, die Kindheiten gleicher machen können. Ob ich ein Instrument lerne oder regelmäßig zum Zahnarzt gehe, sollte nicht davon abhängen, in welche Familie ich geboren werde. An den Schulen dürfen nicht nur Lehrerinnen und Lehrer arbeiten. Wir brauchen dort dringend echte multiprofessionelle Teams.
Wie sollen die Schulen das stemmen? Vielen fehlen doch jetzt schon Platz, Ausstattung, Geld und Personal.
Das braucht riesige Investitionen, bestenfalls ein Sondervermögen Bildung – als Signal ans ganze System. Wir brauchen eine andere Fortbildungskultur an den Schulen. Und trotzdem wäre das nicht nur mit qualifiziertem Personal zu schaffen. Es müsste Anreize geben für Lehrkräfte und Pädagogen, damit sie auch im Rentenalter weiterarbeiten. Und alle anderen brauchen wir auch: als Lesepaten, Mentorinnen oder eben für einen Bastelkurs. Wenn sich nur jeder zehnte Babyboomer ehrenamtlich oder als Honorarkraft an Schulen und Kitas einbringt, wäre das mehr Personal als alle aktuellen Erzieher und Grundschullehrkräfte zusammen.
„Die Trennung hat Tradition: Unser Schulsystem bildet in seinen Grundfesten noch die Ständegesellschaft ab“
Viele beklagen, so weitreichende Reformen würden am Föderalismus scheitern: In Sachen Schule bestimmt jedes Bundesland für sich. Diese geteilte Verantwortung galt lange als wertvoll und richtig, nachdem die Nazis die Universitäten und Schulen ideologisch missbraucht hatten. Heute scheint es eher hinderlich, dass wir statt einem Schulsystem 16 Schulsysteme haben. Würden Sie den Föderalismus abschaffen?
Realistisch ist das nicht. Ganz einfach, weil das nur dann ginge, wenn sich alle Bundesländer mit dem Bund auf ein bestimmtes Schulsystem einigen. Ich habe meine Zweifel, ob der Kompromiss am Ende besser wäre als das System, das wir haben. Leider kann man nicht einfach die Reset-Taste drücken.
Schade. Ich hatte gehofft, wir fackeln das Schulsystem jetzt einmal zusammen ab.
Verständlich. Ich meckere auch leidenschaftlich gern über den Föderalismus, aber momentan ist das nicht der längste Hebel. Die großen Reformen hat es ja trotz föderaler Struktur gegeben: das Recht auf einen Kitaplatz, der Ganztagsanspruch an Grundschulen, das waren bundesweite Änderungen, mit denen damals alle einverstanden waren. Trotzdem ist die Kita-Reform nicht gelungen, und der Ganztagsausbau an den Grundschulen geht – vorsichtig gesagt – schleppend voran.
Als reformbedürftig gilt auch die Selektion am Ende der Grundschule. Deutschland trennt seine Grundschülerinnen und Grundschüler so früh wie sonst kaum ein Land in Europa. In 14 von 16 Bundesländern wird schon in der vierten Klasse entschieden, auf welcher Schule es weitergeht.
Das ist zu früh, bei einem Neunjährigen lässt sich die Entwicklung nicht verlässlich voraussagen. Viele andere Staaten trennen erst mit 15 oder 16. Mindestens zwei Jahre mehr gemeinsames Lernen wären auch bei uns sinnvoll.
Warum trennt man die Kinder überhaupt?
In der Annahme, dass Kinder am besten lernen, wenn sie mit Kindern auf einem ähnlichen Leistungsniveau unterrichtet werden. Die Trennung hat Tradition: Unser Schulsystem bildet in seinen Grundfesten noch die Ständegesellschaft ab. Historisch gab es die längste Zeit Schulen für das Volk und Gymnasien für die Eliten. Wobei mit Elite eher die Herkunft gemeint ist: Das Gymnasium war gar nicht als Schule der Talentiertesten gedacht, sondern als Club der Oberklasse.
„Die Eltern an den Gymnasien gehen auf die Barrikaden, wenn du ihren Kindern die Privilegien absägst“
Und die Realschulen?
Die wurden für das Bürgertum und die Talentierten unter den Arbeiterkindern eingeführt. Genau wie die duale Ausbildung oder die Fachhochschulen. Man musste der Arbeiterschicht etwas geben und hat immer mehr ans System drangebaut, damit die Eliten unter sich bleiben können. Das ist auch der Grund, warum wir so viele verschiedene Schulformen haben.
Die Gesamtschulen waren ursprünglich mal als Lernort für alle Kinder gedacht. Müsste man die Gymnasien abschaffen, damit das funktioniert?
Theoretisch kann das jedes Bundesland tun, wenn es Mehrheiten dafür gibt. Aber ich glaube, mit einer solchen Forderung wäre man politisch geliefert: Viele Eltern würden auf die Barrikaden gehen, wenn man ihren Kindern die Privilegien absägt. Klar ist aber: Lassen wir das System in der heutigen Form einfach laufen, schrumpft der berufsbildende Zweig um die ersten und mittleren Schulabschlüsse – und die Gymnasien und Hochschulen werden strategielos immer größer.
Und wenn Sie allein ein Schulsystem aufstellen dürften? Wie sähe das aus?
Ich würde es wohl zweigliedrig aufstellen, so, wie es in vielen Bundesländern schon organisiert ist. Aber mit einer Grundschule bis zur sechsten Klasse und danach Gymnasium und eine andere Sekundarschulform. Aber so, dass man an beiden Schulen alle Abschlüsse machen kann.
Dann blieben allen alle Wege offen, auch ohne Schulwechsel.
Ja, das wäre schön. Nur befinden wir uns gerade in einem Bildungsabstieg, das System geht auf dem Zahnfleisch: Die Kompetenzergebnisse sind rückläufig, in allen Schulformen, in allen Bundesländern. Entscheidend sind jetzt Kita und Grundschule, nicht Zwei- oder Dreigliedrigkeit. Von solchen sexy Reformen sind wir meilenweit entfernt.
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