Thema – Gender

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Bittere Pille

Weil die Medizin vor allem auf Männer zugeschnitten ist, werden Frauen oft falsch behandelt. Die Gendermedizin will Abhilfe schaffen

Illustration: Christine Gensheimer

Ein Stechen in der Brust und im linken Arm – so werden sehr oft die Anzeichen für einen Herzinfarkt beschrieben. Doch das trifft vor allem auf Männer zu, Frauen haben eher ein Engegefühl in der Brust, Magen-Darm-Beschwerden, Atemnot und Rückenschmerzen. Weil aber die Beschwerden von Männern viel bekannter sind, vermuten Frauen hinter ihren Symptomen oft keinen Herzinfarkt und gehen im Schnitt eine Stunde später als Männer in die Notaufnahme, wie eine Studie des Deutschen Zentrums für Herz-Kreislauf-Forschung zeigt. Bei einer Krankheit, bei der es auf jede Minute ankommt, ist diese Stunde eine ganze Menge.

Ab 2025 soll geschlechtersensible Medizin an allen deutschen Unis unterrichtet werden

Das Beispiel zeigt: Lange Zeit galt der Mann als Standard – egal ob bei der Diagnose oder der Medikation. Das ist nicht nur ein Problem für Personen mit weiblichem Körper, sondern auch für alle anderen Geschlechter. Ab 2025 soll geschlechtersensible Medizin an allen Unis in Deutschland unterrichtet werden und sogar Bedingung für die ärztliche Zulassung sein.

Die Ärztin Laura Wortmann arbeitet in Bielefeld am ersten Lehrstuhl für geschlechtersensible Medizin in Deutschland. Ihr ist es wichtig, zu betonen: „Wir arbeiten nicht spezifisch zu Frauengesundheit.“ Es gehe darum, Medizin für alle zu verbessern und mehr Wissen zu entwickeln, welchen Einfluss das Geschlecht auf den Erfolg der Behandlung habe.

Welches Leiden aus der mangelnden Erforschung von Krankheitssymptomen entstehen kann, zeigt das Beispiel Endometriose – eine Krankheit, bei der Gewebewucherungen außerhalb der Gebärmutter wachsen und die mit starken Schmerzen einhergeht. Zwischen 8 und 15 Prozent aller Frauen leiden, solange sie ihre Periode bekommen, unter der Krankheit, und doch bleibt sie oft unerkannt – auch weil sie so wenig erforscht ist.

Ein anderes Beispiel, das ein Ungleichgewicht zwischen Frauen und Männern in der Medizin zeigt, ist die Verhütung. Hier übernehmen häufig Frauen die Verantwortung und greifen dabei zu einem großen Teil auf Hormonpräparate zurück, trotz möglicher Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen, Stimmungsschwankungen oder einem erhöhten Thromboserisiko. Dass die Pille für den Mann noch keine Rolle spielt, liegt auch daran, dass man Männern ähnliche Nebenwirkungen, wie sie für Frauen Alltag sind, nicht zumuten möchte.

Die Testpersonen bei medizinischen Studien sind meistens männliche – selbst bei Tierversuchen

Außerdem stellten Männer in der Medizinforschung über lange Zeit auch den größten Teil der Testpersonen bei Studien. Sogar bei Tierversuchen sind die Tiere eher männlich. Bis in die 1990er-Jahre wurden Studien größtenteils an Männern durchgeführt und die Ergebnisse auf Frauen übertragen. Dass das Geschlecht wie auch Fitness oder Gewicht Einfluss darauf haben kann, wie der Körper auf Medikamente reagiert, wurde erst später berücksichtigt.

Mit Folgen: Wie eine nachträgliche geschlechtsspezifische Analyse des Medikaments Digoxin zeigte, wiesen Männer mit Herzschwäche unter dem Medikament ein verringertes Risiko auf, zu sterben, während es bei Frauen stieg. Aspirin wiederum hilft nicht nur gegen Kopfschmerzen, sondern Männern bei regelmäßiger Einnahme auch präventiv gegen einen Herzinfarkt. Bei Frauen hingegen senkt Aspirin das Risiko für einen Herzinfarkt nicht, dafür aber das eines Schlaganfalls.

Ein sehr aktuelles Beispiel für Geschlechtsunterschiede in der Forschung und der Krankheit selbst ist Corona. So haben mehr Frauen als Männer einen milderen Krankheitsverlauf, leiden jedoch häufiger an Long Covid.

Frauen leider häufiger an Autoimmunerkrankungen, wozu auch Long Covid gehören könnte

Eine neue Studie legt nahe, dass Long Covid eine Überreaktion des Immunsystems darstellt, das plötzlich den eigenen Körper angreift. Für diese sogenannten Autoimmunerkrankungen sind Frauen anfälliger, sie stellen insgesamt fast 80 Prozent aller Betroffenen dar. Die Forschung geht davon aus, dass das Hormon Östrogen gerade in den physiologischen Übergangsphasen, wie der Pubertät, Schwangerschaft oder den Wechseljahren, Autoimmunerkrankungen beeinflusst. Auch die Einnahme der Pille kann mitunter das Risiko von Autoimmunerkrankungen steigern.

Dass regelmäßige Bewegung und Sport gut für die Gesundheit sind, ist bekannt – aber auch hier spielt das Geschlecht wieder eine Rolle. So werden Jungs viel öfter zum Sporttreiben ermuntert als Mädchen. Doch auch Männer haben höhere Risiken für bestimmte Krankheiten. „Studien zeigen, dass es als Männer sozialisierten Menschen oft schwerer fällt, über ihre Gefühle zu sprechen, und sie deswegen seltener zur Psychotherapie gehen“, sagt Ärztin Laura Wortmann.

Geschlechtssensible Medizin soll auch zeigen, wie sich Geschlechterrollen und -identitäten auf Krankheiten auswirken. „Momentan können wir den konkreten Einfluss von Gender auf Krankheiten nur schlecht erheben“, sagt Wortmann. Denn Gender sei vielfältig, und die Vorstellungen von Rollenbildern auch. Es geht nicht nur um Unterschiede zwischen der Biologie von Männern und Frauen – sondern auch um mehr Repräsentation nichtbinärer Menschen. Damit beschäftigen sich Vereine wie „Feministische Medizin e. V“. Hier setzt sich Ärztin Lucia Mair für eine Gleichberechtigung aller Geschlechter in der Medizin ein. Wo nicht geforscht werde, so Mair, stiegen die gesundheitlichen Risiken, „nicht nur für cis-Frauen, sondern insbesondere auch bei nichtbinären, inter und Transpersonen.“

Es scheint fast so, als würde die Medizin selbst derzeit geheilt – nämlich von ihrem sturen Blick auf den männlichen Körper.

Illustration: Christine Gensheimer

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.