Eines Tages wurde der Tierarzt William Tasiame im Norden Ghanas in ein Krankenhaus gerufen, um sich einen Jungen anzusehen. „Er schnappte nach Luft und konnte kein Licht ertragen“, sagt Tasiame. „Ich wusste, dass er sterben wird.“ Der Junge hatte Tollwut. Tasiame kannte die Symptome von Hunden, auch Wildtiere wie Füchse, Fledermäuse und Waschbären können das Virus übertragen. Die Viren verbreiten sich über das zentrale Nervensystem. Anfangs kommt es zu Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, dann zu Angstgefühlen, Unruhe, Krämpfen der Schluckmuskulatur. Irgendwann meiden die Betroffenen Licht und Wasser. Wenn sie trinken, glauben sie zu ersticken. Erreichen die Viren das Rückenmark und Gehirn, verläuft die Krankheit fast immer tödlich.
Zum Titelbild: In Ghana werden Hunde gegen Tollwut geimpft – das ist der beste Schutz für die Bevökerung (Foto: M. Hernandez/Mission Rabies)
In Deutschland hat man die Krankheit durch Impfkampagnen und orale Impfungen bei Füchsen ausrotten können. Doch nach Schätzungen der WHO sterben weltweit noch immer jährlich rund 60.000 Menschen an Tollwut – 95 Prozent der Fälle treten in Asien und Afrika auf.
Tollwut ist eine von mittlerweile 20 Krankheiten, die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als sogenannte vernachlässigte tropische Krankheiten (engl.: Neglected Tropical Diseases, kurz: NTDs), klassifiziert hat. Das Konzept der vernachlässigten Tropenkrankheiten kam erstmals in den frühen Nullerjahren auf, um auf eine Gruppe von Krankheiten aufmerksam zu machen, die deutlich weniger Aufmerksamkeit bekommen als Aids, Malaria oder Tuberkulose, von denen aber arme Menschen unverhältnismäßig stark betroffen sind.
Auslöser dieser Krankheiten sind Bakterien, Viren oder Parasiten. Sie werden von Tieren auf den Menschen übertragen oder gelangen durch verunreinigtes Trinkwasser in den Körper. Dass diese Krankheiten vernachlässigt werden, liegt nicht daran, dass wenige Menschen erkranken – im Gegenteil: Gut 1,7 Milliarden Menschen in rund 150 Ländern sind von NTDs betroffen. Das ist mehr als jeder fünfte Mensch auf der Welt. Weitere zwei Milliarden Menschen sind dem Risiko zu erkranken ausgesetzt, weil sie in einem betroffenen Gebiet leben. Dennoch haben Forschung, Pharmaindustrie und Gesundheitspolitik den NTDs in den vergangenen Jahrzehnten wenig Beachtung geschenkt. Medikamente, Impfstoffe und Behandlungsmethoden gegen NTDs sind bis heute rar. Der Grund: Sie betreffen fast immer Menschen, die in Armut leben. Für Pharmaunternehmen gibt es daher wenig zu verdienen.
Marco Alves spricht von Marktversagen. Er koordiniert die Medikamentenkampagne von Ärzte ohne Grenzen – eine Organisation, die mit insgesamt 65.000 Mitarbeitenden in gut 70 Ländern weltweit im Einsatz ist, vor allem in Kriegs- und Krisenregionen. Sie versucht, Druck auf die Politik auszuüben und auf systemische Probleme in der Gesundheitsversorgung aufmerksam zu machen. „Wir haben in unseren Projekten beobachtet, dass den Menschen oft der Zugang zu einfachsten Medikamenten fehlt oder sie nicht bezahlbar sind“, sagt Alves.
„Armut ist der gemeinsame Nenner dieser Krankheiten. Und diejenigen, die keine Stimme haben, sind am gefährdetsten“
Jahrelang forderte Ärzte ohne Grenzen die WHO zum Beispiel auf, auch Schlangenbisse in die Liste der NTDs aufzunehmen. Im Mai 2017 war es dann so weit. „Das war ein wichtiger Schritt. Denn jedes Jahr sterben 100.000 Menschen, weil sie von einer Giftschlange gebissen wurden – mehr als bei jeder anderen vernachlässigten Krankheit“, sagt Alves. Betroffen sind vor allem Bauern, die barfuß auf dem Feld arbeiten, oder Menschen, die vor Konflikten oder Gewalt fliehen, oft durch den Urwald. Nur schätzungsweise zwei Prozent der Menschen, die in Subsahara-Afrika von Giftschlangen gebissen werden, erhalten ein hochwertiges Gegengift.
Zwischen 2000 und 2011 war nur rund ein Prozent der neu zugelassenen Wirkstoffe für vernachlässigte Krankheiten bestimmt, obwohl diese elf Prozent aller Krankheiten weltweit ausmachen. „Die Forschung an Medikamenten oder Impfungen gegen NTDs bringt wenig Geld, weil Betroffene nicht viel zahlen können. Deshalb sind sie für Pharmaunternehmen uninteressant“, sagt John Amuasi, Geschäftsführer des African Research Network for NTDs. „Armut ist der gemeinsame Nenner dieser Krankheiten. Und diejenigen, die keine Stimme haben, sind am gefährdetsten.“ Das Netzwerk will in Afrika das erreichen, was Europa schon geschafft hat: den eigenen Kontinent von NTDs befreien. Seit fast 20 Jahren beschäftigt sich Amuasi mit der Bekämpfung tropischer Krankheiten.
„Die Coronapandemie hat uns gezeigt, dass es möglich ist, viele Lösungen in sehr kurzer Zeit zu finden. Das beweist, dass wir es besser machen können. Globale Gesundheit und Pandemievorsorge stehen nun ganz oben auf der Agenda. Aber wir müssen sicherstellen, dass wir auch den NTDs genügend Aufmerksamkeit schenken.“
Doch mehr Forschung und eine bessere Gesundheitsversorgung allein reichen im Kampf gegen tropische Krankheiten nicht aus. „Wenn wir Armut nicht beenden, werden sich diese Krankheiten niemals ausrotten lassen.“
Dabei ist genau das das Ziel der Weltgemeinschaft: Bis 2030 wollen die Vereinten Nationen mit den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung unter anderem Armut in all ihren Ausprägungen beenden (Ziel 1) und Gesundheit und Wohlergehen weltweit stärken (Ziel 3) – unter anderem, indem bis 2030 sämtliche vernachlässigten Tropenkrankheiten beseitigt werden.
Mittlerweile haben internationale Organisationen und Akteure das Problem erkannt. Angelehnt an die Ziele der UN hat die WHO gemeinsam mit Regierungen, Nichtregierungsorganisationen und Interessengruppen im November 2020 einen globalen Fahrplan veröffentlicht. Er soll unter anderem dabei helfen, dass mindestens 100 Länder wenigstens eine NTD beseitigen. Der Fahrplan sei ein wichtiger Schritt, meint Tasiame. Doch solche Abkommen allein reichten noch nicht. „Die Lage in den betroffenen Ländern ist ganz unterschiedlich. Deshalb spielen die Regierungen eine zentrale Rolle bei der Bekämpfung von Krankheiten. In Ghana haben wir zwar einen Plan, aber die Regierung hat keine Mittel, den Plan wirklich umzusetzen“, sagt Tasiame. „In den 1970er-Jahren gab es in Ghana die letzte von der Regierung initiierte Impfkampagne gegen Tollwut. Seitdem ist kaum noch etwas passiert.“ Das Impfen von Hunden ist die effektivste vorbeugende Maßnahme zum Schutz vor Tollwut. Mit Plakaten, Aufrufen im Radio und durch Mund-zu-Mund-Propaganda sammelt Tasiame Spenden – und informiert die Bevölkerung über die Impfaktion. In mehr als 95 Prozent der Fälle sind Hunde die Überträger des Virus. „Je mehr Hunde wir impfen, desto besser können wir Menschen schützen.“
Dafür fährt Tasiame mindestens einmal im Jahr in die ländliche Region im Norden Ghanas. Weit weg von der Hauptstadt Accra, nah der Grenze zu Burkina Faso, leben viele Menschen ohne Strom und fließendes Wasser. Anlässlich des Welttollwuttages am 28. September 2020 hat Tasiames Team auf Dorfplätzen mehr als 2.500 Hunde geimpft. „Das ist ein großer Erfolg – und dennoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein.“ Laut Statistiken gibt es in Ghana mehr als 1,4 Millionen Hunde, so Tasiame. Mindestens 70 Prozent der Hunde müssten geimpft sein, um Infektionen zu verhindern.
Die Big Five: Elefantiasis, Flussblindheit, Trachom, Bilharziose, Darmwürmer
Während im Kampf gegen Tollwut in den vergangenen Jahrzehnten schon viel erreicht wurde, sind einige vernachlässigte Tropenkrankheiten noch deutlich verbreiteter: Elefantiasis, Flussblindheit, Trachom, Bilharziose und der Befall mit den Darmwürmern Helminthen sind die sogenannten Big Five. Sie sind für 90 Prozent aller NTD-Erkrankungen verantwortlich.
In Madagaskar forscht Daniela Fusco, Forscherin am Hamburger Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin, an Bilharziose. Der Inselstaat an der afrikanischen Südostküste hat eine der höchsten Bilharzioseraten weltweit. Die Krankheit beeinträchtigt die Entwicklung von Kindern und die körperliche Leistungsfähigkeit von Erwachsenen. Eine besondere Art der Bilharziose kann bei Frauen zudem HIV begünstigen – und zu Unfruchtbarkeit führen.
„Diese Form der Bilharziose ist quasi die am stärksten vernachlässigte Ausprägung einer vernachlässigten Tropenkrankheit“, sagt Daniela Fusco. „Das hat für die betroffenen Frauen nicht nur gesundheitliche, sondern auch soziale Folgen. Wenn sie unfruchtbar sind, werden sie von ihren Gemeinden diskriminiert oder verstoßen.“
Im Rahmen ihrer Studie versucht Fusco, Frauen über die Krankheit aufzuklären und kostenlose Behandlung anzubieten. Auch wollen sie und ihr Team mehr über die Übertragungswege der Krankheit erfahren. So nehmen Mütter ihre Babys mit zur Erntearbeit auf die Felder, oder die Kinder planschen beim Wäschewaschen im verdreckten Wasser und stecken sich dabei an.
„Alles ist schwerer, wenn es um die Bekämpfung von NTDs geht – es fehlt die Sichtbarkeit, die Lobby, die Infrastruktur, die Gesundheitsversorgung“, sagt Fusco. „Wir könnten mit wenig so viel erreichen. Aber was es wirklich braucht, ist der politische Wille.“