Eine Hand mit genähter Wunde zeigt den Mittelfinger

„Dann kippt es“

Eskaliert die Gewalt an Schulen? Ein Interview mit Sozialarbeiterin Julia Gollan-Müther

Interview: Redaktion
Thema: Bildung
24. März 2025

fluter: Können Sie sich eine gewaltfreie Schule vorstellen? 

Julia Gollan-Müther: Die halte ich für eine Illusion. Schulen sind Orte, an denen sich viele sehr verschiedene junge Menschen begegnen. Da sind Konflikte und Grenzüberschreitungen völlig normal. 

Laut Polizeilicher Kriminalstatistik steigt die Zahl der Gewalttaten unter Kindern und Jugendlichen, in Umfragen sagen Lehrkräfte und Schulleitungen, die Gewalt an ihren Schulen nehme zu. Sie sind als Schulsozialarbeiterin und Fachberaterin in Nordrhein-Westfalen an einigen Schulen unterwegs. Beobachten Sie diese Zunahme auch? 

Einen leichten Anstieg sehe ich. Nur weiß ich nicht, ob mehr passiert oder ob wir einfach genauer hingucken und mehr anzeigen. Ich bin seit 22 Jahren in der Schulsozialarbeit, seitdem sind Personal und Schülerschaft deutlich sensibler geworden, gerade was Beleidigungen angeht. Was ich aber deutlich sehe: Die Intensität der Gewalt ist eine andere. 

„Früher hat man aufgehört, zu prügeln, wenn einer am Boden lag. Heute tritt man noch mal zu“

Sie meinen, die Taten werden brutaler? Gibt es einen Fall, an den Sie da denken müssen? 

Über einzelne Fälle kann ich nicht sprechen, für mich gilt die Schweigepflicht. Aber sagen wir es mal so: Früher hat man aufgehört, zu prügeln, wenn einer am Boden lag. Heute tritt man noch mal zu. Oder filmt mit. Messer oder Schlagringe sind fast Standard an vielen Schulen im Land. Es erschreckt einen, dass Schüler im Gefühl zur Schule gehen, sie müssten sich dort verteidigen können. 

Befeuern Social Media die Gewalt? 

TikTok oder Snapchat sind nie der alleinige Grund für Übergriffe. Aber klar, die entfachen eine Dynamik. Gewaltvideos verbreiten sich dort rasend schnell. Und Beleidigungen und Mobbing eskalieren eher, weil man vom Gegenüber keinerlei Reaktion sieht. 

Warum schlägt jemand zu, was wissen Sie über die Täter? 

Die leiden in ihren Familien meist selbst unter Gewalt. Viele stehen zu Hause enorm unter Druck. Wir haben Jugendliche, die machen morgens ihre kleinen Geschwister für den Kindergarten fertig, lassen eine alkoholisierte Mutter und einen tobenden Vater auf dem Sofa zurück, und wenn sie fünf Minuten zu spät zum Unterricht kommen, drückt ihnen ein Mitschüler einen Spruch rein. Dann kippt es. Die haben ein dünneres Fell als die, die aus stabilen, liebevollen Familien kommen. Logischerweise. 

Die Zahlen rechtsextremer Vorfälle an Schulen steigen seit Jahren. Wie nehmen Sie das wahr? 

Das kommt bei uns glücklicherweise selten vor. Wir arbeiten beim Thema Extremismus vor allem präventiv, Demokratieerziehung und antirassistische Projekte spielen an den Schulen eine große Rolle. Wenn es zu rechtextremen Vorfällen kommt, arbeiten wir mit lokalen Deradikalisierungs- und Ausstiegsberatungen. Rassismus soll hier keinen Platz haben. 

„Schulen müssen sichere Orte sein. Damit meine ich nicht, dass alle brav im Unterricht sitzen und sich die Tür aufhalten. Gewalt entsteht aus Konflikten, und wie man die löst, muss man lernen“

Wie sieht es mit den internationalen Konflikten aus? Für viele Schulen ist zum Beispiel der Nahostkonflikt eine Herausforderung, es kam vermehrt zu Übergriffen auf jüdische Schülerinnen und Schüler. 

An meinen Schulen ist das eher kein Thema. Auf dem Schirm haben wir die Situation in Israel und Gaza natürlich trotzdem immer: Der Nahostkonflikt wird regelmäßig im Unterricht besprochen, und unser Krisenteam bietet Gespräche für betroffene Schülerinnen und Schüler an, genauso, wie wir das bei anderen Krisen gemacht haben, dem Erdbeben in der Türkei etwa, dem Ukrainekrieg oder während der Pandemie

Was schützt Jugendliche davor, gewalttätig zu werden? 

Gute Beziehungen, untereinander, aber auch zu Lehrkräften oder Sozialpädagogen. Wenn ich das Gefühl habe, man interessiert sich für mich, ich bin Teil einer Gemeinschaft, will ich mich in einem Streit nicht um jeden Preis durchsetzen, sondern bin eher bereit, Lösungen zu finden. So ein Klima können die Schulen aber nur mit den ausreichenden personellen Ressourcen schaffen. 

Sie meinen, es sollte mehr pädagogisches Personal geben? 

Unbedingt, mehr Sozialarbeitende und überhaupt genug Lehrkräfte. Erst mit Personal, das sich wohlfühlt und einen guten Umgang vorlebt, wird Schule zum Raum, in dem sich Schülerinnen und Schüler ausprobieren können. Schulen müssen sichere Orte sein. Damit meine ich nicht, dass wir alle brav im Unterricht sitzen und uns gegenseitig die Tür aufhalten. Gewalt entsteht aus Konflikten, und wie man die löst, muss man lernen. Heißt, dass ich auch mal Scheiße bauen darf, ohne direkt als Person abgeschrieben zu werden.

Cover des fluter-Hefts Schule
Dieser Artikel ist aus dem fluter „Schule“.
Hier geht's zum ganzen Heft.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.

Titelbild: Maša Stanić