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Comfort Food

Sorgen, Ängste und Stress nehmen bei Jugendlichen zu. An Schulen sollen Mental Health Coaches vorbeugen. Wie funktioniert das im Alltag?

Text: Luise Land und Illustration: Animationseries2000
Thema: Körper
24. März 2025

„Auf einer Skala von eins bis zehn, wie wohl fühlt ihr euch in der Schule?“, fragt Stefan Grünewald. „Neun“, sagt der Junge zu seiner Linken und schiebt seine Brille die Nase hoch. „Sechs“, sagt ein Mädchen mit lila Pudelmütze. Rechts von Grünewald wippen die Sneaker eines Mädchens unablässig auf einem Basketball. „Sie waren schon lange nicht mehr hier“, sagt sie. „Können Sie öfter kommen?“

Dienstags in der dritten Stunde ist eigentlich Mathe angesagt für die 5a. An diesem Januarmorgen sitzen die Schülerinnen und Schüler aber im Stuhlkreis und besprechen, wie es ihnen geht. Zwischen ihnen: Sarah Dickmeis und Stefan Grünewald, die beiden Mental Health Coaches der Alexander-von-Humboldt-Schule in Viernheim, nordöstlich von Mannheim. Studien zeigen, dass die Pandemie, Kriege und Zukunftsängste Kinder und Jugendliche psychisch enorm belasten. Laut der groß angelegten COPSY-Studie (COrona und PSYche) leidet jeder fünfte Befragte unter psychischen Auffälligkeiten und Angstsymptomen. Damit ist die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen auch Jahre nach der Pandemie deutlich schlechter als davor

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Probleme erkennen, bevor sie entstehen

Das Bundesfamilienministerium hat einen Modellversuch aufgesetzt: Seit Sommer 2023 arbeiten Mental Health Coaches an 125 Schulen, ein Anfang. In Workshops und Einzelgesprächen sollen Dickmeis und Grünewald für psychische Gesundheit sensibilisieren, Vorurteile gegenüber mentalen Erkrankungen abbauen und Probleme erkennen, bestenfalls, bevor sie entstehen.

Eine halbe Stunde später sitzen ein Mädchen und ein Junge der 5a Rücken an Rücken. Auf die Tische vor ihnen haben Dickmeis und Grünewald bunte Bauklötze gekippt. „Jetzt einen gelben Turm bauen“, sagt das Mädchen. Der Junge stellt einen gelben Stein auf. Jetzt eine blaue Brücke, dann ein grünes Dach, erklärt sie, und er baut auf, ohne sich umzudrehen. „Fertig“, sagt Grünewald und fragt in die Runde: „Was hätten die beiden anders machen können?“ Ein Mädchen reißt den Arm hoch: „Er hätte mehr nachfragen können.“ Durch diese Übung würden die Fünftklässler lernen, dass sie immer fragen können, wenn sie etwas nicht verstehen, wird Dickmeis später erklären.

Ihre Armbanduhr zeigt 10.53 Uhr. Die Mental Health Coaches sitzen an ihren Schreibtischen. Am Schuleingang links, am Ende des Flurs, die Schülerinnen und Schüler können jederzeit kommen, wenn sie reden wollen. „Wir sind sehr froh, dass wir hier ein eigenes Büro haben“, sagt Dickmeis.

Sie ist 40, Grünewald 54. Seit sieben Jahren arbeiten beide als Sozialarbeiter an der Gesamtschule. Als die Diakonie sie im Herbst 2023 fragte, ob sie Mental Health Coaches werden wollen, hätten sie sofort zugesagt. Voraussetzung war ein Studium der Psychologie, Sozialen Arbeit oder Pädagogik, viele Coaches haben Zusatzausbildungen. Dickmeis ist Fachberaterin für Psychotraumatologie, Grünewald Antiaggressions-Coach.

Zu Beginn des Schuljahres hätten sie erst mal alle fünften Klassen besucht, erzählt Grünewald: erklären, wer sie sind und wo ihr Büro ist. Sie kommen auf Wunsch der Lehrkräfte, wenn Einzelne immer wieder stören oder ganze Klassen zu unruhig sind, um unterrichtet zu werden. Und sie geben Workshops: wie man Social Media nutzt, ohne dass es auf die psychische Gesundheit schlägt, wie man mit Konflikten umgeht oder mit Nacktbildern, die rumgeschickt werden.

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Falsche Bilder, die belasten

11.30 Uhr, die Schulglocke läutet, eine siebte Klasse lässt sich auf die Stühle fallen. Das letzte Mal waren Dickmeis und Grünewald vor acht Monaten hier. Damals haben sie in Übungen erarbeitet, wie sich die Realität im Internet vom echten Leben unterscheidet und dass viele Fotos dort Fake sind. Grünewald fragt: „Wie geht’s euch? Und hat sich an eurem Social-Media-Konsum etwas verändert seit dem letzten Mal?“ Ein Junge erzählt, dass er inzwischen tatsächlich mehr draußen sei und weniger am Smartphone. Bei anderen hat sich nicht so viel getan. „Mir geht’s nicht gut, Mathe war schlecht“, sagt ein anderer und schaut zu Boden. „Magst du morgen mal zu uns ins Büro kommen?“, fragt Grünewald. Der Junge nickt.

Dass mentale Gesundheit wichtig ist, sei der Schülerschaft hier sehr bewusst, sagt Grünewald, zurück im Büro. „Sie sagen aber nicht: ‚Ich habe ein psychisches Problem‘“, sagt Dickmeis. „Die sagen: ‚Ich reiß mir den Arsch auf, lerne zwei Wochen für eine Arbeit, und in der Prüfung ist der Kopf leer. Wieso?‘“, sagt Grünewald und beißt in sein Franzbrötchen. Die Schülerinnen und Schüler erzählen ihnen von Familien, die sich zerstreiten, von Eltern, die zu viel Druck machen, und von der Angst, morgens in den Schulbus zu steigen. Sehen Dickmeis und Grünewald Anzeichen einer Depression oder tiefgehende Probleme in der Familie, vermitteln sie an die Schulpsychologin. Die kommt einmal im Monat an die Schule.

„Die Jugendlichen haben heute mehr zu bewältigen als zu meiner Zeit“, sagt Dickmeis. „Wir sehen ja, was in der Welt passiert. Social Media konfrontieren die Kinder viel direkter damit.“ Auf die Krisen draußen, auf den Krieg in der Ukraine oder die Bilder aus Gaza könne und müsse man die Kinder vorbereiten. „Wir wären auch ohne diese Krisen nicht arbeitslos“, ergänzt Grünewald. Wie sie den Schulalltag verändern würden? Im Lehrplan müsse mehr Platz sein für mentale Gesundheit, und die individuellen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler sollten stärker berücksichtigt werden. „Kann doch nicht sein, dass nur Mathe, Deutsch und Physik aneinandergereiht werden“, sagt Dickmeis.

Die Universität Leipzig hat das Mental-Health-Coaches-Programm untersucht. Laut dem Gutachten wünschen sich 90 Prozent der befragten Schüler und Schülerinnen, dass die Coaches bleiben. Im Sommer endet die Förderung für das Programm aber erst mal. Dickmeis schüttelt den Kopf. „Es ist allerhöchste Zeit, dass es Coaches wie uns dauerhaft an allen Schulen gibt.“

Gegen 16 Uhr fahren die beiden nach Hause. Am nächsten Tag wird der Junge mit den Matheproblemen an ihre Bürotür klopfen.

Cover des fluter-Hefts Schule
Dieser Artikel ist aus dem fluter „Schule“.
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